Welch anderes Bild in England und den USA. In England ist der Grund einfach: Jeremy Corbyns Wirtschaftspolitik beruft sich auf Polanyi und orientiert sich an ihm. Konservativere Medien wie das Magazin Economist haben sich nicht nur aus diesem Grund ausführlich mit Polanyi befasst (The great transformation: Corbynomics would change Britain – but not in the way most people think, 17.5.2018); in der linksliberale Tageszeitung Guardian hatte der Politologe Adrian Pabst lange zuvor schon apodiktisch festgestellt, Polanyi, nicht Keynes sei „der einzige Ökonom, der die wahren Grenzen von Kapitalismus und Sozialismus erfasst hat“ (9.11.2008). In einem Editorial hielt der Guardian fest: „Corbynomics wurde in solchen moralischen (Polanyi’schen, Anm.) Begriffen geframt – und das ist eine sehr gute Sache“ – es fehle nur an Mut zu konkreten Beispielen (27.5.2018).
Neuerdings gab die englische Ökonomin Ann Pettifor, Mitinitiatorin der Jubilee-2000-Aktion, die eine Schuldenstreichung für die ärmsten Länder fordert, der deutschen taz ein Interview, in dem sie aktuelle politische Verhältnisse mit Polanyi erklärte: „Trump repräsentiert einen großen Teil der Gesellschaft, sicherlich. Er repräsentiert die ängstliche Bevölkerung, Menschen, die verunsichert sind durch die Wirtschaftskrise. Die Banken wurden gerettet, der Bevölkerung wurde Austerity verordnet und ihr wurde gesagt, sie müsse Opfer bringen. Die Löhne sind heute noch niedriger als vor der Krise. Einfache Menschen haben ihre Wohnungen verloren, sie sehen ihre Jobs bedroht von der chinesischen Konkurrenz, und in Washington geht es den Banken so gut wie zuvor. Schon Karl Polanyi hat in den 1930ern erklärt, dass die einfachen Menschen einen starken Mann wählen, wenn sie das Gefühl haben, dass sie Schutz brauchen. Das ist eine Reaktion auf eine unregulierte Ökonomie. Der starke Mann verspricht, eine Mauer an der Grenze zu Mexiko zu errichten und gegen die Chinesen zu kämpfen. In Frankreich erleben wir den Aufstand von ähnlich Benachteiligten. (…) Die Wahl eines autoritären Führers löst die Probleme für die Bevölkerung nicht, sondern verschlimmert sie. Diese Erfahrung werden die Menschen machen. In den USA und in Großbritannien sind die Pensionen weitgehend privatisiert, das Geld liegt bei Schattenbanken. Die spekulieren damit. Was machen sie genau mit den Pensionen? Niemand weiß es, es gibt keine Transparenz. Und keine Kontrolle. Mister Blackrock managt sechs Milliarden Dollar solcher Gelder. Was wissen wir über Blackrock?“ (taz, 12.1.2019)
In den USA steht die Position Polanyis ebenfalls außer Frage. Die New York Times zitiert sein Werk und nennt sein Hauptwerk unter den bedeutendsten Büchern der Emigration neben jenen von Hannah Arendt, Theodor W. Adorno und Thomas Mann (1.2.2017); oder sie zitiert es wie Pankaj Mishra in einem Artikel über den indischen Premier Modi (14.11.2016).
Publikumszeitschriften wie der New Yorker widmen Polanyis Thesen 15-seitige Essays („Is Capitalism a Threat to Democracy“ – eine Rezension von Robert Kuttners Polanyi-Buch). Die einflussreiche New York Review of Books publizierte eine Kritik ebendieses Robert Kuttner von Gareth Dales (s. Seite 101 in diesem Buch) Polanyi-Biografie unter dem Titel „The Man from Red Vienna“.
Dass Bernie Sanders’ marktkritische Ideen mit Polanyi begründet wurden, versteht sich fast von selbst („Polanyi for President“, Dissent Magazine, Frühjahr 2016). Das Dissent Magazine, eher klassisch links, angesiedelt zwischen kommunitaristisch und sozialdemokratisch, publizierte mehrere große Texte zu Polanyi, außer dem erwähnten etwa „The Elusive Karl Polanyi“ (Frühjahr 2017) oder „The Return of Karl Polanyi“ (Frühjahr 2014).
Debatten über Neoliberalismus kommen schwer ohne Referenz auf Polanyi aus. In The New Republic, dem schwer umkämpften und zerzausten linken Magazin, erklärte der englische Politologe William Davies: „Das Idealbild getrennter politischer und wirtschaftlicher Bereiche wurde vielfach kritisiert. Von Marxisten mit der Begründung, dass es den Vorwand biete, die Ausbeutung des Proletariats zu verbergen (…), vor allem aber auch von Karl Polanyi, der meinte, es sei nur eine Illusion. Aus Polanyis Sicht ist der Staat nie ganz aus dem wirtschaftlichen Bereich abwesend, sondern ständig damit beschäftigt, jene wirtschaftlichen Freiheiten herzustellen und durchzusetzen, welche die Befürworter von Laissez-faire als ‚natürlich‘ betrachten.“ Oder, wie Steven Hahn in einem großen Text über Armut in den USA im linken Flaggschiff The Nation lapidar schreibt: „Laissez-faire war geplant, wie Polanyi bemerkte.“ (18. 4. 2018)
Junge Neomarxisten löckten im Magazin Jacobin wider den Stachel und nannten, was Polanyi vorschlage, eine Art Wohlfahrtskapitalismus; wohl ein Schritt vorwärts, aber für wahre Sozialisten zu wenig. Solche Ironie scheint jedoch angesichts der politischen Auseinandersetzungen in England und den USA ganz unangebracht. Wenngleich das Magazin neuerdings (Jacob Hamburger, „The Unholy Family“, Jacobin 1/2018) Polanyi mit Melitta Coopers Werk „Family Values“ kritisiert und bestreitet, er habe wirklich eine Alternative zum kritisierten Neoliberalismus vorgelegt, vielmehr sei die Struktur der Kleinfamilie beiden eigen, dem Sozialismus und dem Neoliberalismus – Karl Polanyis Werk lebt, es wird darüber berichtet, es wird als aktueller Wegweiser für linke Politik leidenschaftlich diskutiert. Das könnte unserer (medialen) Linken ein Beispiel geben. Dieses Buch möchte dazu Anstöße liefern.
Anmerkung 1
Diese Zusammenfassung berücksichtigt weder Onlinemedien (wie orf.at, das sich um Polanyi verdient machte) noch Hörfunk wie Ö1, der sich wiederholt mit Polanyi befasste, oder TV-Serien (Arte berichtete über Polanyi in einer sechsteiligen Doku über große Ökonomen).
Anmerkung 2
Diese Zusammenfassung will nicht werten. Es geht ihr nicht um die korrekte oder weniger korrekte Polanyi-Rezeption, sondern nur um eine (notwendigerweise unvollständige) Erfassung der Resonanz in Publikumszeitschriften und Zeitungen des deutschen und des angelsächsischen Raums der letzten fünf Jahre.
FIKTIVE WAREN UND DREI WELLEN DER VERMARKTLICHUNG
Was fiktive Waren sind und wie öffentliches Gut zu privatem Kapital wird. Karl Polanyi lesen und weiterdenken
MICHAEL BURAWOY
Nach der Finanzkrise 2008 waren zunächst zahlreiche neue progressive Protestbewegungen weltweit zu beobachten. Inzwischen sind auch rechtspopulistische Kräfte erstarkt. Mit Karl Polanyis Buch „The Great Transformation“ analysiere ich „Vermarktlichung“ vom Standpunkt der sozialen Bewegungen aus, die sie hervorbringt, um darüber hinaus historisch drei Wellen zu unterscheiden.
Die fiktive Ware: von der Kommodifizierung zur Exkommodifizierung
Das zuerst 1944 veröffentlichte Buch Polanyis ist eine schneidende Abrechnung mit der Bedrohung, die der überdehnte Markt für das Überleben der Gesellschaft darstellt. Diese Bedrohung ist so schrecklich, dass sie – bei Strafe des Untergangs – die Selbstverteidigung der Gesellschaft auf den Plan rufen muss. Um die gelebte Erfahrung der Vermarktlichung und die Möglichkeit ihrer Umkehr zu verstehen, ist Polanyis Konzept der „fiktiven Ware“ besonders nützlich. Darin beschreibt er den destruktiven Charakter der Kommodifizierung.
Polanyi behauptet, dass Arbeit, Boden und Geld – als drei Produktionsfaktoren – nie dazu gedacht waren, gekauft und verkauft zu werden, und dass ihre unreglementierte Kommodifizierung (ihr Zur-Ware-Werden) ihren „wahren“ oder „wesentlichen“ Charakter zerstöre. Wenn Arbeitskraft ohne Schutz vor Verletzungen oder Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Überbeschäftigung bleibt oder gegen Löhne unterhalb des Subsistenzniveaus ausgetauscht wird, schwindet die Arbeit, die aus ihr gewonnen werden kann, bald dahin und verkehrt