Karl Polanyi hat solche Entwicklungen mit dem Konzept der „Doppelbewegung“ (Polanyi 2015, S. 102, 185, 207 f.) zu erfassen versucht. Für ihn ist die Gesellschaftsgeschichte ab dem 19. Jahrhundert das Ergebnis einer „Doppelbewegung“, einer „Bewegung“, mit der sich die Idee des „selbst-regulierenden Marktes“ durchsetzte, und einer „Gegenbewegung“, in der sich gesellschaftliche Gruppierungen sowie staatliche Institutionen auf unterschiedliche Weise vor den negativen Dynamiken der Marktwirtschaft zu schützen suchen. Angst vor der Kommodifizierung von Land, Arbeit, Geld und Wissen wird zu einer diffusen Sorge um die Zukunft. Dies kann für neue progressive Allianzen genutzt werden, wie Bernie Sanders in den USA und Ada Colau in Barcelona zeigen. Aber auch nationalistische Politiken verstärkter Grenzkontrollen können durchaus als Reaktion auf die Konkurrenz auf globalen Arbeitsmärkten gelesen werden. Karl Polanyis integrierte Analyse eröffnet inspirierende Anhaltspunkte, um über die aktuellen Auswirkungen von wirtschaftlichen Umwälzungen auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen nachzudenken.
Die Visionen einer gerechten und freien Gesellschaft
Wenngleich für wachsende Teile der Gesellschaft der Kapitalismus ökologisch, sozial und ökonomisch kein zukunftsfähiges System ist, so ist damit noch nichts über die Alternativen zu ihm gesagt. Karl Polanyis Nachdenken über eine gerechte und freie Gesellschaft setzt bei der Vorstellung an, dass – wie er es seinerzeit vermutete – die Menschheit nach den Erfahrungen von Diktatur und Krieg nie wieder den Weg einer radikalen Wirtschaftsliberalisierung gehen würde. Unter dieser Voraussetzung sieht er in der Industriegesellschaft eine Grundlage, auf der sich eine gerechte und freie Gesellschaftsordnung herausbilden kann. Was den ersten Punkt angeht, wurden wir inzwischen eines Schlechteren belehrt: Der Finanzmarktkapitalismus hat die Wirtschaftsliberalisierung erneut auf die Spitze getrieben. Was den zweiten Punkt angeht, so ist die Industrialisierung des Lebens in sozialer und ökologischer Perspektive zu einem eigenen Problem geworden, dessen Ursachen nicht allein in der „Marktwirtschaft“ zu suchen und zu sehen sind. Dies hat Zivilisationskritik anderer Art hervorgerufen, bei der es um die destruktiven und befreienden Potenziale technologischer Entwicklungen geht: Die Sharing Economy kann eine Kultur der Commons, des gemeinsamen Nutzens, begründen oder digitale Plattformen als neue globale Monopole schaffen. Wissen kann mit Wikipedia für alle zugänglich sein oder durch Vereinheitlichung die Entstehung globaler Bildungskonzerne ermöglichen, die Wissen enteignen und konzentrieren. Roboter können Arbeitserleichterung schaffen, aber auch die totale Überwachung wird technisch möglich.
Gerade deshalb ist Polanyis pluralistisch-sozialistische Vision von „Freiheit in einer komplexen Gesellschaft“ (Polanyi 2015, S. 329 ff.) von großer Aktualität, wenn es darum geht, über emanzipatorische und solidarische Formen einer postkapitalistischen Gesellschaft nachzudenken. Anders als zu Polanyis Zeiten blicken wir heute jedoch auf eine Geschichte des (Staats-)Sozialismus zurück, die ursprünglich als sozialistisch verstandene Ideen von Gleichheit, Freiheit, Solidarität deformiert und diskreditiert hat. Über eine Neuordnung der Gesellschaft im emanzipatorischen Sinne nachzudenken bedeutet auch, sich mit den historischen Erfahrungen staatssozialistischer Diktaturen auseinanderzusetzen und Wege in eine solidarische Gesellschaft zu suchen, in der sich die Freiheit der Einzelnen mit sozialer Gerechtigkeit und Entfaltungsmöglichkeiten für alle verbindet.
Karl Polanyis zentraler Beitrag, den er auf den letzten Seiten von „The Great Transformation“ ausführt und den wiederzuentdecken lohnt, besteht in einem flammenden Appell gegen Dogmatismus und Vereinfachung. Es ist ein Plädoyer für Dialektik und Pragmatismus. Die Kritik am fehlgeleiteten Glauben an die Selbststeuerungskraft des Marktes darf nicht zu einer Ablehnung von Märkten an sich führen. Die Kritik am exzessiven Individualismus liberalen Denkens darf nicht vergessen lassen, wie bedeutsam das Recht auf Nonkonformismus und der Schutz von Minderheiten ist. Doch gleichzeitig führt kein Weg daran vorbei, dass Gesellschaften nur mit „Planung“, „Regulierung“, „Kontrolle“ (Polanyi 2015, S. 338 ff.) und einem handlungsfähigen Staat gestaltbar sind. Sonst herrscht das Recht des Stärkeren: Digitale Plattformen verdrängen mit Steuer- und Sozialdumping die Konkurrenz; Radfahren bleibt eine Nische für Ökobewusste und geflogen wird weiterhin steuerbegünstigt. Kurzum, ohne „Planung“, „Regulierung“, „Kontrolle“ ist „Freiheit in einer komplexen Gesellschaft“ (Polanyi 2015, S. 329 ff.) nicht möglich, wenn sie mehr sein soll als die individuelle Freiheit der Privilegierteren.
Warum Polanyi die Persönlichkeit des Jahrhunderts sein sollte
Karl Polanyi verdient es, eine zentrale Referenz für das 21. Jahrhundert zu werden, weil sein Denken auf der Suche nach konstruktiven, solidarischen Alternativen hilft. Polanyi ist keinesfalls der einzige Vor- und Querdenker, um in der aktuellen Umbruchphase eine umfassende Systemkritik mit einer konkreten Zeitdiagnose zu verbinden. Es kann nicht darum gehen, Polanyi gegen Marx, Weber, Adorno, Keynes oder viele andere auszuspielen. Querdenken heißt, verschiedene Perspektiven zu nutzen, um in der Vielfalt der aktuellen Dynamiken nicht orientierungslos zu werden. Jedoch gibt es für die Polanyi-Renaissance gute Gründe: Sein Werk lädt ein, das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft neu zu denken. Polanyi hilft, die Gefahren zu erkennen, denen sich eine Zivilisation ausgesetzt sieht, in der materielle Eigeninteressen als einzig legitime gesellschaftliche Interessen gelten: Zahlt es sich aus? Rechnet es sich? Können wir uns dies und jenes leisten? Polanyi hilft uns, dieses ökonomische Denken erneut in größere gesellschaftliche und ökologische Zusammenhänge einzubetten. Nur auf diese Weise können die gesellschaftlichen Belange der Vielen zum Taktgeber der Wirtschaft gemacht werden, statt sie an den individuellen Interessen von wenigen auszurichten.
Und Polanyi lädt – auch in Verbindung mit seiner Biografie – dazu ein, an die Anfänge des 20. Jahrhunderts zurückzugehen und aus der Geschichte zu lernen: aus dem Kampf um Demokratie und Frauenrechte, um Wohlfahrtsstaat und gegen Krieg. Aus den großen Siegen (gegen den Faschismus und beim Aufbau der Völkerverständigung) und schrittweisen Erfolgen (den vielen kleinen Gesetzesänderungen, geänderten Routinen und kulturellen Selbstverständlichkeiten wie der voranschreitenden Gleichstellung der Geschlechter, der breiten Akzeptanz von Homosexualität, der wachsenden Sensibilisierung für die Belange von Menschen mit Beeinträchtigung) können wir Kraft schöpfen für die Auseinandersetzung mit erstarkenden rechtspopulistischen und autoritären Kräften. Es kann auch wieder anders werden: „[M]ehr Freiheit für alle zu schaffen“ (Polanyi 2015, S. 344) ist möglich. „Freiheit für alle“ bleibt der Horizont konkreter Utopien.
Quellen
Robert Boyer im letzten Teil, „Karl Polanyi – Wirtschaft als Teil des menschlichen Kulturschaffens“, des auf Arte gezeigten sechsteiligen Films von Ilan Ziv, „Der Kapitalismus“.
Karl Polanyi (2015), The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
„VIELE WEIDEN AUF POLANYIS WIESE“
Das Werk Karl Polanyis in deutschsprachigen und angelsächsischen Medien der vergangenen fünf Jahre
ARMIN THURNHER
Viele Texte, nicht nur, aber auch in diesem Buch,