Am 8. Mai 2018 wurde in Wien die International Karl Polanyi Society gegründet. Im Rahmen der Gründungstagung in der Wiener Arbeiterkammer wurden zahlreiche substanzielle Referate zum Thema gehalten, von denen einige in einer Beilage zur Wiener Wochenzeitung Falter mit dem Titel „Transformation des Kapitalismus? Karl Polanyi, Wiederentdeckung eines Ökonomen“ dokumentiert wurden. Die Tagung fand nicht von ungefähr an diesem Ort statt, denn für Polanyi stellten die Leistungen des Roten Wien einen Höhepunkt westlicher Zivilisation dar.
Die Beilage bildet die Grundlage des vorliegenden Buchs. Präsident und Vizepräsidentin der International Karl Polanyi Society, Andreas Novy und Brigitte Aulenbacher, haben sie mit Markus Marterbauer, Michael Mesch und Reinhold Russinger von der AK Wien und dem Autor konzipiert. Vor allem haben sie wesentliche Beiträge dazu geleistet und mit ihren Beziehungen ermöglicht, dass die Blüte der Polanyi-Forschung in diesem Heft schreibt. Und dass die Ökonomin Kari Polanyi-Levitt, Tochter Karl Polanyis und Nachlassverwalterin seines Werks, nun auch Ehrenpräsidentin der International Karl Polanyi Society, in diesem Buch mit einem großen biografischen Interview über ihren Vater vertreten ist.
Neu ist die Einleitung in das Werk Polanyis. Einige Beiträge wurden überarbeitet, andere wesentlich erweitert, wie jener von Michael Mesch über die biografischen Milieus von Karl Polanyi. Das Buch soll auch hierzulande einen Neubeginn der Auseinandersetzung mit einem Denker ermöglichen, der im angelsächsischen Raum als Jahrhundertfigur gilt.
Karl Polanyi bietet keine Politikanweisung. Er bietet nur Analysen. In Debatten der angelsächsischen Linken spielt er eine prominente Rolle. In politisch dürftigen Zeiten, wo sogenannte Politikberater den Ton angeben und Social-Media-Teams die Öffentlichkeit prägen, gibt das Werk Karl Polanyis Denkanstöße der substanziellen Art. In diesem Sinne will das Buch zum Weiterdenken und Weiterdebattieren anregen.
I
Die Renaissance
Was macht Karl Polanyi so aktuell, dass man ihn sogar „die Persönlichkeit unseres Jahrhunderts“ nannte? Dass die Zeit, die er analysierte, der Aufstieg der schrankenlosen Marktgesellschaft, frappierende Ähnlichkeiten mit unserer Zeit aufweist. Was ist das überhaupt, eine Marktgesellschaft? Und zeigt sich eine Gegenbewegung nach von Polanyi analysierten Mustern nicht gerade bei denen, die man „völkische Populisten“ nennen kann? Und wie sieht es aus, betrachtet man die Printmedien mit der Renaissance Polanyis im angelsächsischen Raum?
DIE GRENZEN EINER MARKTGESELLSCHAFT
Oder: warum „Polanyi die Persönlichkeit unseres Jahrhunderts sein sollte“
BRIGITTE AULENBACHER, VERONIKA HEIMERL, ANDREAS NOVY
In seiner Würdigung der Arbeiten Karl Polanyis sagt der international renommierte französische Ökonom Robert Boyer, „dass Polanyi die Persönlichkeit unseres Jahrhunderts sein sollte“. Was macht seine Kultur-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Kapitalismus heute so brisant? Polanyi untersuchte in seinem 1944 erschienenen Hauptwerk „The Great Transformation“ den Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts, den Börsenkrach von 1929 und die Große Depression sowie das kommunistische, faschistische und demokratische Ringen um die Neuordnung der Gesellschaft. Warum wurden diese Reflexionen seit den 1980er-Jahren, vor allem aber nach 1989 unter den Vorzeichen einer neuen Phase der Globalisierung wiederentdeckt und warum lässt sich heute geradezu von einer Polanyi-Renaissance sprechen? Vier Gründe lassen sich anführen, die die Einzigartigkeit von Polanyis Kapitalismuskritik hervorheben.
Die zerstörerische Macht des Marktes
Karl Polanyi war nicht nur ein Vordenker der Kapitalismuskritik, sondern auch ein unkonventioneller Querdenker. Als Journalist, Volksbildner, Wissenschaftler schrieb er teils essayistisch, was seine Schriften ebenso verständlich wie eindringlich macht. Informiert durch die Rechts-, Wirtschafts-, Sozialwissenschaften, Philosophie und Anthropologie ist sein Gesamtwerk weit gespannt und auch sein Hauptwerk bewegt sich quer zu disziplinären Spezialisierungen und über sie hinweg. So gelingt es ihm, das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft neu zu definieren.
Historisch weit ausholend zeigt er, wie in vorindustriellen Gesellschaften wirtschaftliches Handeln Teil des sozialen und kulturellen Lebens war. In der Regel wurden ökonomische Interessen (wie Gewinnstreben und Preissetzungen) sozialen und politischen Motiven (wie Status und Stabilisierung der bestehenden Gesellschaftsordnung) untergeordnet. Der Tausch auf Märkten war einzig eine von vielen wirtschaftlichen Institutionen. Umverteilung (Redistribution) durch eine Zentralmacht lebt heute in der Sozialversicherung und im Steuerstaat fort; doch schon in bäuerlichen Gemeinschaften kam beispielsweise der zentralen Lagerhaltung eine wichtige wirtschaftliche Bedeutung zu. Gegenseitigkeit (Reziprozität) gehört zum Zusammenleben in der Familie, in der Hauswirtschaft und lebt in Nachbarschaften fort. Gegenseitigkeit prägt aber auch bis heute den Zusammenhalt von Burschenschaften oder die Vettern- und Parteibuchwirtschaft.
Mit der Herausbildung des Industriekapitalismus änderte sich Karl Polanyi zufolge die untergeordnete Stellung der Ökonomie. Erstmals in der Geschichte (wirtschafts-)liberalen Denkens wird die Idee des „selbst-regulierenden Marktes“ für die Ausgestaltung des Verhältnisses von Wirtschaft und Gesellschaft leitend. Die Verhältnisse verkehren sich: Die Prinzipien und Mechanismen des Marktes beginnen die Wirtschaft und letztlich die Gesellschaft zu beherrschen. Dies „(…) bedeutet nicht weniger als die Behandlung der Gesellschaft als Anhängsel des Marktes. Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet“ (Polanyi 2015, S. 88). Es geht Polanyi nicht um Marktkritik per se. Auch Polanyi würdigt die Errungenschaften, die sich aus technischem Fortschritt und aus dem liberalen Wertekanon ergeben, der das Recht auf Nonkonformismus und Rechtsstaatlichkeit festschreibt. Wohl aber kritisiert er scharf eine Entwicklung, in der Märkte zu Taktgebern des gesellschaftlichen Lebens werden.
Im Finanzmarktkapitalismus, wie er sich nach 1989 herausgebildet hat und auch durch die Krise 2008/09 nicht zu Fall gebracht worden ist, ist diese Marktmacht in bis dato unbekanntem Ausmaß zur Geltung gelangt und dringt in alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens vor. Alles wird käuflich, alles kann zur Ware werden: Finanzialisierung und ihre Folgen im Gesundheitswesen, im Immobiliensektor und in vielen weiteren Bereichen prägen den gesellschaftlichen Alltag. Kommodifizierung – etwas zu einer Ware machen – erstreckt sich auf alle wirtschaftsrelevanten „Elemente“, auch solche, die dazu nicht vorgesehen sind: Land als Metapher für Natur, Arbeit als Inbegriff menschlicher Tätigkeit, Geld als Mittel des Tausches – sie sind bloß „fiktive Waren“ (Polanyi 2015, S. 102). Werden sie den Dynamiken der „Marktwirtschaft“ in einer „Marktgesellschaft“ untergeordnet und unterworfen, gefährden sie damit die Gesellschaft in ihrer Substanz. Wenn Arbeit als eine Ware wie alle anderen gilt, dann werden Kollektivverträge obsolet und Prekarisierung wird unvermeidbar. Wenn kurzfristige Geschäftsinteressen wichtiger sind als Klimaschutz, gefährdet dies die ökologischen Grundlagen unserer Zivilisation. Es sind aber nicht nur die auf Anhieb als zerstörerisch erkennbaren Entwicklungen, die an die Substanz der Gesellschaft gehen, sondern auch die subtileren Mechanismen, mit denen Menschen gezwungen werden, sich in der „Marktgesellschaft“ einzurichten. Diese suggerieren nämlich ein neues Ausmaß an individueller Freiheit für diejenigen, die erfolgreich mitspielen: als Unternehmer und Unternehmerinnen ihrer selbst, als Ich-AGs, Best-Ager etc. Schließlich sind weitere Elemente zu nennen, auf die Polanyis Konzept der „fiktiven Waren“ angewandt werden kann: So wird das Wissen etwa zur Ware, wenn Universitäten zusehends wie Unternehmen geleitet und an der Marktgängigkeit ihrer Forschungs- und Lehrergebnisse bemessen werden oder wenn indigenes Wissen patentiert zur Ressource industrieller Medikamentenproduktion wird.
Die Neuordnung der Gesellschaft
Geschichte wiederholt sich nicht. So sind die gegenwärtigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Ordnung und Neuordnung nicht mit den Umwälzungen gleichzusetzen, die die Folge von Wirtschaftskrise,