Auf der Fahrt über den sich an der Ostküste nach Norden ziehenden Island Highway (19), durch dessen Bau 1979 diese Küstenwaldregion erst erschlossen wurde, nimmt mit den Kilometern auch die Schönheit zu. Und dort, wo der Tourist etwa 70 Kilometer hinter Campbell River neben der alten Farmer- und Holzarbeiteransiedlung Sayward auch die Südgrenze der Nordinsel erreicht, beginnt eine Gegend, in der schneebedeckte Bergspitzen und baumbewachsene Ufer klarer Seen das Bild prägen.
Möglichkeiten, die Küstenstraße unterwegs zu verlassen gibt es mehrere, mit Fähren oder über Straßen, die im Hinterland jedoch aus Schotter bestehen. Auf der nördlichen Insel wird der eine oder andere europäische Tourist vielleicht die Möglichkeit nutzen, in Port McNeill den kurzen Fährabstecher nach Sointula oder Alert Bay (Totempfähle) auf den Inseln Malcom und Cormorant unternehmen, doch kaum zwischen Port McNeill und Port Hardy die Möglichkeiten wählen, die ihn nach Port Alice am Victoria Lake, Coal Harbour (Quatsino Sound) oder nach Winter Harbour und Cape Scott bringen würden. Das südlicher gelegene Woss im Nimpkish Valley ist ebenfalls eher ein Ausgangspunkt für Kenner, zumal das Gold im zweihundert Jahre alten Zeballos längst geschürft ist. Dort, wo zwischen 1938 und 1943 für mehr als 13 Millionen Dollar dieses Edelmetalls gefunden wurden, leben heute zwar nur noch ein paar Hundert Menschen, darunter auch Angehöriger verschiedener Indianerstämme, mit Läden, Motels, Pup, Cafe, Tankstelle und Campingplatz, aber es liegt nach wie vor von Bergen umgeben an seiner Bucht in landschaftlicher Schönheit. Die alten Wälder sind auch Heimat von Bären, Hirschen, Elchen und Cougars, und der Wanderer kann auch bergsteigen, surfen, tauchen, fischen oder sein Kajak besteigen. Und wenn im Herbst die Lachse in den mitten durch das Ortszentrum fließenden Zeballos River kommen dann reicht es, sich auf der Sugarloaf-Brücke einzufinden, um von einem sichern Platz aus den Bären beim Fischfang und Trompeterschwänen und Möven beim Streit um die Fischeier zuzuschauen. In jedem Frühjahr ziehen die Grauwahle auf ihrer Reise nach Norden an der nicht weit entfernten Nootka Insel vorbei, die an ihrer Westküste auch ganzjährig den gleichnamigen Trail als Küstenwanderpfad offeriert, den Charterunternehmen in Zeballos bedienen.
Wer noch weiter nördlich in die genannten Gegenden abbiegt, ist weder ein europäischer Sonntags- noch Pauschaltourist, sondern hier finden hartgesottene Bootsfahrer, Angler, Wildnis-Wanderer oder Offroader ihre Welt, die am Nordwestzipfel von Vancouver Island im Cape Scott Provinzpark auch in rauer, zerklüfteter Küstenwildnis mit schönen Strandabschnitten, aber auch Bären und Wölfen und ohne jegliche touristischen Einrichtungen, wandern können. Die von Port Hardy entlang klarer Seen und bewaldeter Täler zur Nordwestpsitze der Insel kriechende Schotterpiste verlangt Allrad, und wegen des „Schuh-Trees“ (eine alte Zeder voller Schuhe) muss man sie schon gar nicht fahren. Solche Verrücktheiten sind mir auch im Oregon begegnet. Zu Watson Lake schrauben die Touristen noch immer ihre heimatlichen Ortsschilder an die Pfähle, suchen in einem historischen Roadhouses am Klondike Highway an Decke und Wänden ein Plätzchen für ihre Mützen und Visitenkarten, oder zeigen sich spendabel wie in einer Pub in Hyder /Alaska, wo zwischen Hunderten signierter Geldnoten aus aller Welt auch echte 100 DM-Scheine an die Wand genagelt wurden, als vom Euro noch keine Rede war.
Vancouver Island lässt sich auch gut mit einer Tour entlang der „Sonnenscheinküste“ verknüpfen, denn die 99 zieht von Vancouver hinüber zur Horseshoe Bay am Howe Sound, wo 40 Fährminuten die Verbindung zur „101“ herstellen und Strände, Buchten, Fjorde und Wälder mit Zedern und Douglasien den Tourist empfangen. Achtzig Kilometer nördlich bieten sich in Egmont Schiffstouren zum Princess Louisa Inlet und den Chatterbox Falls an, ehe zu Earls Cove erneut eine Fähre den Asphalt ersetzt, der anschließend von Saltery Bay seinen Weg zu Kanadas Taucherhauptstadt Powell River sucht und zu Lund sein Ende findet. Von Hektik ist in dieser, von den Coast Mountains geschützten Region nichts mehr zu spüren und der Ruhe suchende Tourist am richtigen Platz.
In Powell River verbinden die BC-Ferries in 75 Minuten hinüber nach Comox auf Vancouver Island, wo der Ort und das gleichnamige Tal zwischen den schneebedeckten Beaufort Bergen und der Strait of Georgia als auch die nahen Denman- und Hornby Inseln Urlaubsfreuden versprechen. Und wer im Frühjahr nach hier kommt, der kann innerhalb von dreißig Minuten auch vom Pulverschnee aufs Boot, zu einem grünen Golfplatz oder einem der zahlreichen Parks wechseln, weil das milde Klima die Wünsche nach Betätigung das ganze Jahr über erfüllt.
Comox, an der Ostseite der Insel und deren Küstenstraße gelegen, ist ein kleiner Ort mit zwei Ampeln, in dem uns in „Jasmins Cafe“ die Sängerin bediente, die am Abend mit ihrer Band im besten Restaurant des Ortes Musik machte. Hier ist auch British Columbias ältestes Hotel, das „Lone“ zu finden, wo Billard dominiert und die Bar gut besetzt ist, als auch der Hinweis, dass die Wurzeln der Ansiedlung „Port Augusta“ waren, der schon 1867 Schiffen Zuflucht bot, wenn sie Stürme in Bedrängnis brachten. Heute hat das Dörfchen, zusammen mit dem südlicher gelegenen Nanaimo, seinen ganz großen Tag eigentlich nur noch ein einziges Mal im Jahr, wenn die Heringe vom Pazifik kommen! Dann drängen sich in den Häfen Boote aus Glasfiber und Alu und mit klangvollen Namen, denn die Strait of Georgia ist eines der fünf großen Fanggebiete in BC. Zum Fang auslaufen dürfen die startklaren Schiffe aber erst dann, wenn das Zeichen vom Managementboot der Fischindustrie dafür gegeben wird. Das kommt aber nicht sofort, nachdem die Schwärme von den Überwachungsflugzeugen geortet worden sind, denn es geht nicht um den Fisch als solchen, sondern ausschließlich um Rogen für die Japaner. Dieser ist im Land der aufgehenden Sonne eine teure Delikatesse, während der Rest zu Futter verarbeitet wird.
Von den 200.000 Tonnen „Biomasse“ die in den Golf kommt, dürfen maximal 10 Prozent gefangen werden – den „First Nations“ steht davon die Hälfte zu –, denn der Hering muss als Nahrungsträger (allein die Seelöwen fressen jährlich 6.000 Tonnen) vor Überfischung geschützt werden. So wird jedes Boot auch strengstens kontrolliert, auf Lizenz (eine lebenslange kostet 650.000 $), Fangmenge, Maschengröße und Netzart, denn Schleppnetze sind verboten. Und der Fischer, der mir das erzählt fügt an: „In unsere Gewässer kommen jährlich mehr als 150.000 Tonnen Hering – auf Comox und Nanaimo entfallen etwa 9.000 Tonnen –, aber wir importieren Rollmops aus Holland …“
Angekündigt wird das Spektakel aber schon vorher: Durch Tausende von Möwen, Seeadler und Seelöwen, die sogar das ferne Kalifornien verlassen, um am großen Fressen teilzunehmen. Sind sie eingetroffen, dann kommen auch die Heringe und die weiße Milch der Männchen überzieht die Küstenlinie kilometerweit. Auslaufen dürfen die Fangschiffe aber erst, wenn das Startsignal nach Probefängen verkündet, dass die beiden goldgelben Reihen des Rogens, die jedes Weibchen in sich trägt, den geforderten 12 bis 14 Prozent des Fischgewichtes entsprechen. Wenn es ertönt ist die gespenstische Ruhe im Hafen sofort zu Ende und die Boote eilen unter voller Fahrt ihren Fanggründen entgegen. Größtenteils schließen sich mehrere Schiffe zu Pools zusammen und teilen den Fang, denn nicht jedes ist zur richtigen Zeit am richtigen Ort und nach vier Tagen ist – bis zum nächsten Jahr – schon wieder alles vorbei.
Schon in der Nacht sind die japanischen Spezialisten und Aufkäufer im Hafen an Bord ihrer Vertragsschiffe, um die Qualität des Fanges zu prüfen, bevor Saugrohre aktiv werden und die Fracht bis Dezember in Salzlauge eingefroren wird. Erst dann wird der Rogen entnommen, von dem jährlich etwa 2.000 Tonnen ihren Weg nach Japan finden. Bezahlt wird nach Qualität und Menge. Sieben Testreihen mit jeweils 36 Fischen, der Anzahl der Weibchen und deren durchschnittlichem Rogen-Anteil bilden dafür die Prozent-Grundlage, nach der die komplette Ladung von der Fischfabrik bezahlt wird. Und das kann bis zum Sommer dauern.
Die Sonnenscheinküste mit der Überfahrt nach Comox hatten wir ursprünglich auch im Programm, aber wegen der sehr teuren Einwegmiete des Autos nach Port Hardy, die uns diesen Teil der Reise kurzfristig umgestalteten ließ, musste auch sie noch einige Jahre warten. Statt Horseshoe Bay wählten wir nun Tsawwassen und anstelle eines Autos den Bus. Die Fähre der Inside Passage ließ sich auch umbuchen, so dass wir keine Zeit verloren. Nur die Ausarbeitung unserer Tour für Vancouver Island brauchten wir jetzt nicht mehr. Dass sie allerdings volle zehn Jahre im Schubkasten schlummern würde, davon bin ich damals nicht ausgegangen.
In Swartz Bay steigen wir wieder in unseren Bus und erreichen nach etwa 40 Minuten