Auch für Bajuwaren gibt’s ein „unten“
„Ihr da unten (habt ja immer viel Schnee im Winter)“, schrieb mir unlängst ein Freund aus Mettmann im Rheinland. Wir da unten? Also! Gegen „unten“ ist ja zunächst nichts zu sagen – wobei diesem „unten“ schon auch etwas Erniedrigendes anhaftet. Es ist Umgangssprache, das Landkartendenken, der flüchtige Atlantenblick, im Volksmund, der meist ja nur nachplappert, was er irgendwo aufgeschnappt hat. Wir wissen: Die Erde ist eine Kugel, nicht hundertprozentig rund, das nicht, ein wenig ellipsenförmig, das schon. Aber im Großen und Ganzen doch eine Kugel – nicht oben ohne, aber eben ohne oben oder unten, links oder rechts.
Dennoch fahren wir Reichenhaller/-innen nach Salzburg „umme“ oder „nüber“ (hochdeutsch „rüber“), nach München „auffe“ (rauf), in die Stadt (wer außerhalb wohnt) oder nach Berchtesgaden „nei“ beziehungsweise „eini“ (rein), nach Freilassing „naus“ (raus) und – ja tatsächlich – nach Italien „obe“ (runter). Also: Auch wir Bayern haben ein „unten“. Zum Glück.
Ich fahre gern weg, mag das Startfeeling, egal ob umme, auffe, nei, eini, naus oder obe. Das spielt keine oder sagen wir eine relativ untergeordnete Rolle. In den letzten Jahren verlagerte sich das zuvor meist obe eher in ein auffe. Der Norden hat es mir mittlerweile weit mehr angetan, als der in Kindheitstagen gleichermaßen aufgezwungene wie abgegraste, oft doch identische Süden. Irland, Skandinavien, ja schon der deutsche Norden kommt meinen Fotografen-Vorstellungen vom „perfekten Licht“ oft sehr viel näher als das mitunter recht sommer-dunstige Italien. Griechenland nicht: Das faszinierende Kontrast-Farbenspiel kalkweißer Kykladen-Inselhäuschen vor tiefem Ägäisblau konnte bislang kein anderer Ort toppen.
Ganz „hinten“, ziemlich weit „unten“, schlug ein Land dennoch alles: 23 Stunden „umme“ und „obe fliagn“, bis Neuseeland, war zwar hart, aber mein bislang erreichtes „Ende der Welt“ lohnte sich überproportional, jede Sekunde – von oben bis unten, von „herent“ (hier) bis „drent“ (drüben). Die südlichsten Südinsel-Einheimischen habe ich im Februar 2011 dennoch nicht gefragt, was für sie „unten“ noch kommt.
Neuseeländischer Sonntag
Wir parken ohne Suche, Stehenbleiben verbotsschildfrei. Abseits aller Tourismusströme. Keine zwei Meter von jener Stelle, an der das vom lauen Sommerwind leicht kräuselnde Wasser des Lake Rotoma die bunten Kieselsteine zart benetzt. Raus aus dem Miet-Mitsubishi Space-Runner 4WD mit Schaffänger (eigentlich Kuhfänger, aber das braucht in Neuseeland kein Mensch), runter mit T-Shirt und Short, rein ins schwarze Kristallbecken. Frische 18 Grad hier drinnen, über 30 knapp drüber. Aushalten. Durchatmen. Kühle spüren. Auf der Haut, jedem Quadratzentimeter. Genuss. Kein Mensch weit und breit beobachtend. Kein Strommast stört den reinen Luxus-Naturblick, sattes Waldhügelgrün und kräftiges Himmelszeltblau beherrscht. Nichts unterbricht. Paradies am Sonntagnachmittag. Auch mal Alleinsein. Kurze Gedanken, an Europa, das vermeintliche Zentrum, den Massenabfertigungsbetrieb. Dort mal Alleinsein. Unmöglich fast, mittlerweile.
Luxus Zeit
Reisen – der Luxus – bedeutet für mich viel, und doch ist es so einfach: „Zeit haben“. Zeit für Dinge, die im Alltag untergehen, zu kurz kommen, Zeit, die man sich nicht nimmt, warum auch immer. Zeit für Beobachtungen, ohne voyeuristisch daherzukommen. Sehen, wie andere leben. Was sie tun, um ihrem Leben Sinn, welchen auch immer, zu geben. Ohne nach dem eigenen Sinn des Lebens suchen zu müssen, ohne dem eigenen Leben gerade überhaupt Sinn geben zu müssen. Trotzdem entdeckungsbereit. Und: Einfach nur da sein und bleiben, das Menschsein fühlen, nicht weiter müssen, einatmen, ausatmen, gespannt entspannen, sehend schauen und Leben leben. An einem frühen Morgen auf den hohen Klippen Santorins: die weißen Kapellen, die strahlendglänzenden Kreuzfahrtschiffe, das Azur-Meer, Mediterran-Feeling, im Pistazien- und Oliven-Land. Einen Nachmittag lang in einem Café in der Londoner Irving-Street: dem Treiben zuschauen, den gestressten Bankern und anderen Krawattenträgern, den lauten Gauklern und konzentriert-lockeren Straßenmalern, den probenden Musical- und Theaterstars, den zerstreuten Obdachlosen und Allerländerherren. Ein Abend in der Bucht des „französischen“ Küsten-Städtchens Akaroa: im Schatten der grellrot leuchtenden Pohutukawas („Weihnachtsbäume“) den neuseeländischen Skippern beim Abtakeln beiwohnen, nicht ohne vorab bei Kapitän Romantik auf der Fox II selbst hinter Hector-Delfinen hergesegelt zu sein … – oder, gar nicht so „fahr far away“, die heimelige Sommerfrischler-Atmosphäre des stets rausgeputzten Salzkammergut-Dorfes Strobl am Wolfgangsee kennenlernen und aufsaugen: Alte Villen-Welt, schattige Alleen, urige Kaffeehäuser, alt-österreichische, jegliche Klischees erfüllend. ERleben ist überall möglich.
Ungeplant
„Wir planen Ihre perfekte Reise“, lese ich an einem grauen Dienstagabend in der Reichenhaller Fußgängerzone und könnte blindlings auf den versprochenen Sonnen-D-Zug aufspringen. Um im nächsten Augenblick eilig davonzurennen und laut rauszuschreien: „Bitte alles, nur das nicht“. In einem kleinen Pavillon sitzt einer dieser gemütlichen „Reiseplaner“ und verhökert Kaffeefahrten zum Wilden Kaiser. Er wirbt mit diesem „besonderen“ Spruch. Marke „besonders unerfüllbar“. Denn was ist erstens schon perfekt? Jeder Erdenbürger definiert das für sich differenziert, individuell. Und warum muss es zweitens überhaupt „perfekt“ sein, das Wegfahren, das Wegsein, das Urlaubmachen, das Reisen, das Zur-Not-Tourist-Sein? Wäre der perfekte Aufenthalt in fremden Ländern nicht unglaublich langweilig? Abgesehen davon, dass er bei allen Unwägbarkeiten – gerade on Tour – ohnehin niemals möglich ist, der perfekte Urlaub. Irgendetwas ist doch immer, das einem nicht so sehr behagt – je nachdem, wie intensiv man sich auf Störfeuer einlässt. Und Reiseplaner Karl-Heinz möchte mir den Urlaub immer noch perfekt machen: „Guten Tag, ach was, ach so, ja, jetzt weiß ich es, was genau Ihnen am Adriastrand, ja exakt dort, gut tut. Ich weiß es ganz genau“. Meine Zweifel sind berechtigt. Nein, ich möchte nicht, dass mir jemand meine Route strickt und diese womöglich noch selbstbewusst mit Attributen wie „geplant“ oder „perfekt“ einpackt. Verschlossen und versiegelt. Nein, bitte bloß das nicht. Ich will nicht mal urlauben, ich will reisen, will Unerwartetes, reichlich Neues, belebend Überraschendes, auch Unvorhergesehenes, viel Frisches und erstaunlich Kurioses, will Unplanbares ERleben. Will bleiben, wo ich SEIN kann. Stehen, wo ich SEIN darf. Sitzen, wo ich SEIN finde. Sehen und Staunen, wo ich will. Autark. Ohne Cicerone, der in bester Absicht meint, mir könnte es hier oder dort, womöglich sogar oben besser als unten oder rechts besser als links gefallen.
Darum mein abschließender Tipp für alle, die mit wachen Augen SEHEN wollen, die mit offenen Ohren HÖREN wollen, die mit leisem Mund STAUNEN, mit langsamen Schritten GEHEN, mit wachem Verstand BLEIBEN und mit glühendem Herzen ERLEBEN wollen: Reist! Vorurteilsfrei. Voller Interesse. Mit Bedacht. Nicht triumphierend – „hurra, wieder ein Land erobert“ –, sondern bescheiden, nicht polternd, sondern auf bedächtigen Sohlen, nicht verbrauchend, sondern Ressourcen schonend, nicht fordernd, sondern respektvoll und wenn nötig mit gebührendem Abstand.
Ja, Herr Altmann und alle da draußen: Ich will weltwach sein. Immer, überall, in jeder Lebensphase.
Hans-Joachim Bittner
Petra
Im März 1967 wurde ich in Neuwied im Rheinland geboren. Mit 23 Jahren hat es mich nach Bayern verschlagen. Dort habe ich eine Ausbildung zur Altenpflegerin abgeschlossen und Volker kennengelernt. Nach dreieinhalb Jahren haben wir geheiratet.
Petra
Als Kind war ich mit