Bei ihrer Ankunft auf der Burg sind sie nicht in der Lage, die Tore zu öffnen; sie zwängen sich daher durch die Gitterstäbe und gelangen so in Utgardlokis großen Saal – woraufhin der König von ihnen gewisse Kunststücke verlangt, wenn sie zu bleiben wünschen. Als erstes muß Loki mit Logi um die Wette essen und verliert, sodann unterliegt der schnellfüßige Thjálfi gleich in drei Wettläufen einem gewissen Hugi, obwohl es ihm gelingt, seine Niederlage einigermaßen in Grenzen zu halten. Schließlich ist Thor an der Reihe und entscheidet sich für einen Wettbewerb im Trinken. Utgardloki bringt ihm ein Horn und erklärt ihm, dass bisher noch niemand verfehlt hat, das Horn in mindestens drei Zügen zu leeren. Weit davon entfernt, es ausleeren zu können, macht Thor allenfalls bei seinem dritten Versuch etwas Eindruck. Als nächstes soll Thor eine große Katze vom Boden aufheben, aber so sehr er sich auch anstrengt, schafft er es nur mit größter Mühe, eine ihrer Pfoten anzuheben. Thor schlägt nun vor, jemanden im Einzelkampf zu besiegen, aber sein Gastgeber macht sich über ihn lustig und läßt seine alte Ziehmutter Elli herbeirufen, die als einzige am Hofe eine Herausforderung von einem derartigen Schwächling annimmt. Wieder gelingt es Thor nicht, die anderen zu beeindrucken, und der Kampf wird beendet. Die Gefährten werden nun aufwändig bewirtet und ziehen sich dann zurück.
Am nächsten Morgen begleitet Utgardloki Thor und die anderen aus der Burg hinaus bis zur Straße und nötigt Thor zuzugeben, dass er sich ordentlich blamiert habe. Darauf erklärt Utgardloki dem Gott aber, dass er ihn, wenn er von seiner gewaltigen Kraft gewusst hätte, niemals in seine Burg aufgenommen hätte, und dass durch seine Taten beinahe sein Königreich zugrunde gegangen wäre. Er gibt zu, dass Skrymir niemand anders als er selbst gewesen sei. Der Proviantsack, so erklärt er, war mit Eisen zugebunden, und die Hammerschläge, mit denen Thor geglaubt hatte, ihn getroffen zu haben, haben in Wahrheit drei Täler in einen Tafelberg geschlagen. Ähnlich waren auch die Wettbewerbe Täuschungen. Lokis Herausforderer Logi (Flamme), war nichts Geringeres als ein Waldbrand, während Thjálfis Gegner Hugi (Gedanke) des Königs Gedanken waren. Was Thors Herausforderungen betrifft, so war das Horn mit dem Meer verbunden, dessen Spiegel von Thors großen Schlucken beträchtlich gesenkt wurde; die Katze war die monströse Midgardschlange, die die Welt umspannt; und der Name der alten Frau, Elli, bezeichnet genau das, was sie war: nämlich das Alter. Aufgebracht durch diese Geständnisse, greift Thor nach Mjöllnir, aber Utgardloki und seine Burg sind verschwunden.
Der Mythos von Thor und Utgardloki hat wenig von der Undurchsichtigkeit, die den ungeschliffenen Mythen zueigen ist; eher hat er in seiner Machart etwas von einem künstlerisch ausgearbeiteten Volksmärchen, und es ist kaum zu bezweifeln, dass dies der Fall ist. Es ist auch möglich, dass die Geschichte von der Lähmung der Böcke und deren Wiederbelebung durch Thor aus hagiographischen irischen Erzählungen der Wikingerzeit übernommen wurde, und dass Ähnlichkeiten mit irischen Volksmärchen – so wie die Episoden, die den Riesen Skrymir betreffen, und die Serie von Wettbewerben an Utgardlokis Hof – auch eine keltische Herkunft dieses speziellen Mythos andeuten.27 Dennoch bleibt einiger Grund zu der Annahme, dass hinter dieser Kunstfertigkeit Elemente authentischer sakraler Mythologie mit skandinavischen Wurzeln stehen. Als Thor in der ‚Lokasenna’ zurückkehrt, um dem Unruhe stiftenden Loki entgegenzutreten, verhöhnt ihn dieser und erinnert ihn daran, dass ‚du, Held, hocktest in des Handschuhs Däumling’, und
Rau schienen dir die Riemen Skrymirs,
nicht kamst du zur Kost.28
Ähnlich wird Thor, im verbalen Schlagabtausch mit Odin in der VerkleIdunag des Fährmannes Harbard, im ‚Hárbarðsljóð’, an seine Schmach bezüglich seiner Händel mit einem gewissen Fjalar erinnert, der vermutlich Skrymir ist:
Thor hat Kraft genug, doch keinen Mut:
Vor Schrecken und Herzensangst wurdest du in den Handschuh gestopft,
und nicht trautest du dich, Thor zu sein:
du wagtest nicht einmal vor lauter Angst
zu niesen und zu furzen, dass es Fjalar vernahm.29
Eine sogar noch größere Ähnlichkeit mit dem Skrymir-Mythos – oder vielleicht einen entsprechenden Einfluss – können wir in einem russischen Volksmärchen vom ritterlichen Helden Ilya finden, dessen Versuche, den Riesen Svyatogor mit seiner Keule zu erschlagen, beinahe identisch mit Thors Bemühungen sind, Skrymir mit seinem Mjöllnir zu töten. Ebenso konnten Versatzstücke von Volksmärchen aus dem Kaukasus nachgewiesen werden, in denen von Helden die Rede ist, die in riesigen Handschuhen schlafen, mit dem beschwerlichen Gepäck von Riesen hantieren und allerlei Kraftproben zu verrichten haben.
Während einiges für die Möglichkeit spricht, dass Utgardloki erst später in den Mythos eingefügt wurde, ist ein anderer, etwas verwirrender Hinweis auf ihn – wie jener bezüglich Geirröd und seiner Töchter – ebenfalls in Saxos Erzählung von den Abenteuern Thorkils zu finden. Auf einer Wanderung wird Thorkil geraten, sich der Orakelweisheit von Utgardloki zu bedienen, doch als er dessen armseliges, von Schlangen befallenes Lager erreicht, findet er ihn sterbend, bemitleidenswert und in Fesseln gebunden vor. Während diese Variante gewiss mehr Ähnlichkeiten mit der Fesselung Lokis aufweist, nachdem er die Ermordung Baldurs verschuldet hatte, als mit Snorris Darstellung, wie Thor in den Händen von Utgardloki behandelt wurde, ist sie nichtsdestotrotz bemerkenswert. In einer Hinsicht gibt es Parallelen zwischen Thors Verbindung mit Utgardloki und jener zwischen Thor und Odin, besonders im ‚Hárbarðsljóð’, da Thor in beiden Fällen als sprachlich ungewandt dargestellt wird. Dasselbe kann über Thors Mangel an Raffinesse im Vergleich zu seinem häufigen Gefährten Loki gesagt werden, der in diesem Mythos außergewöhnlich stumm ist und dessen stille Duldsamkeit durch das Verhalten von Utgardloki (Loki der äußeren Zäune) ausgeglichen wird. Ebenso offenkundig spielt Thor eine Schlüsselrolle bei der Fesselung Lokis (siehe ‚Ragnarök entgegen’ in diesem Kapitel). Saxos Erzählung ist dann möglicherweise eine Verschmelzung aus Lokis Bestrafung und einer eventuellen Rache, die Thor zu einem späteren Zeitpunkt der Mythologie an Utgardloki nimmt.
Genau wie Utgardloki als analoge Schöpfung zu Odin und Loki gesehen werden kann, so kann sein Hof als Parallele zu Asgard betrachtet werden, da – sehr ungewöhnlicher Weise – die Riesen in dieser Erzählung als ebenso geistreich, erfinderisch und kulturell verfeinert dargestellt sind wie ihre göttlichen Feinde.30 Im Zentrum der Erzählung steht eine Bemessung der jeweiligen Stärken und Schwächen von Göttern und Riesen; etwas, das gewissermaßen ihre Konfrontation in der Ragnarök abwendet. Auch wenn die Riesen sich letztendlich als den Göttern in Fragen reiner Macht unterlegen erweisen, wie anhand der Person Thors dargestellt, so zeigen sich ebenso die Grenzen von Thors Kraft, vor allem gegenüber den magischen Künsten. Vielleicht sträuben sich Gylfis Informanten aus diesem Grunde, das wahre Ausmaß von Thors Kräften offen zu legen, denn dieses zu kennen bedeutet ebenso, seine Schwächen zu kennen. Man bedenke, dass diese Erzählung von Thor den Gott stärker vermenschlicht als irgendeine andere. Seine Annahme menschlicher Diener, vor allem des unfehlbar loyalen Thjálfi, unterstreicht die Wahrnehmung Thors als denjenigen Gott, den die menschliche Mentalität begreifen, und dem sie infolgedessen vertrauen kann.
Thors Fischzug: Die Midgardschlange
Die Midgardschlange, auch bekannt als Jörmungand (Weltenschlange), gehört zusammen mit dem Wolf Fenrir und der Göttin Hel zu Lokis monströsen Ausgeburten. Nach Snorri – und wie es sowohl in der skaldischen als auch der eddischen Dichtung bezeugt wird – sind diese die Ergebnisse von Lokis Verbindung mit der Riesin Angrboda, deren Name ‚die Kummer Bereitende’ bedeutet. Als Odin der Gefährlichkeit dieser Kreaturen gewahr wird, weist er ihnen Plätze in den äußeren Weltbezirken zu: die Midgardschlange wird in das Meer geworfen, wo sie solche Ausmaße annimmt, dass sie die ganze Welt umspannt. Die ‚Götter’ erzählen Gylfi, dass Thor sich, bei seiner Rückkehr nach dem Debakel an Utgardlokis Hof, ‚entschlossen habe, nach einer Gelegenheit für ein Zusammentreffen zwischen ihm und der Midgardschlange zu suchen.’31 Thors offensichtliche Motivation ist die Wiederherstellung seines Rufes, und ‚es ist bekannt, auch unter Nichtwissenschaftlern, dass Thor Wiedergutmachung zuteilwird