Zur Schuluniform gehörte ein Barett als Kopfbedeckung. »LPF«–»Liceul Particular de Fete« prangte auf der Stirnseite in goldenen Lettern. Golden schimmerten auch die Nummern auf den Ärmelaufschlägen der Uniformen. Fadenscheiniger Glanz. Die Ziffern dienten in erster Linie dazu, Bespitzelung zu erleichtern, die die Inspektoren auch außerhalb des Schulbereiches fortsetzten. Selbst vor dem Privatleben der Mädchen machten sie nicht halt. Wer ohne Uniform auf der Straße ertappt wurde, musste Strafe befürchten. Wer in der Öffentlichkeit Deutsch sprach, musste Strafe befürchten. Zu den Kardinalsünden zählte, sich ohne Uniform in Gesellschaft eines Jungen erwischen zu lassen. Eine Möglichkeit, die Strafe abzuwenden, fand sich dennoch immer: »Bakschisch« hieß das Zauberwort, das nachsichtig stimmte. Diese lukrative Möglichkeit der Nebeneinkünfte machte Schulkontrolleure und selbst Polizisten blind gegenüber Verfehlungen.
Leistung und Bildung – für die Freizeit blieb den meisten Mädchen nicht viel Luft. Vor allem nicht, wenn sie aus besseren Kreisen stammten: Französischunterricht bei Fräulein Harnik. Sportunterricht im Makkabi-Turnverein. Musikunterricht, Kunststunden. Die Nachmittage waren ausgefüllt. Bereits ab dem fünften Lebensjahr fingen Kinder des wohlhabenden Bildungsbürgertums mit dem Privatunterricht in Französisch an.
Selma zählte nicht zu den besseren Kreisen. Von teuer bezahltem Privatunterricht ist nichts bekannt. Selma ist auch nie auf den Fotos der feinen Kindergeburtstage ihrer Klassenkameradinnen zu sehen.
Man blieb auch bei Ausflügen in die nähere Umgebung unter sich, wenn es zum Schwimmen an den Pruth ging oder wenn Margits Mutter eine Kinderschar mit Picknick-Korb zum Fluss begleitete. Umso wichtiger wurde Selma ihre Freundschaft zu Renée. Mit ihr tauschte sie auf dem gemeinsamen Schulweg Privates aus. Da mussten sie nicht die Kontrolle der rumänischen Schulinspektoren fürchten. Liane Schindler beneidete Klassenkameradinnen um diese Intimität. Sie wurde jeden Morgen mit dem »Sandläufer«, einem eleganten Einspänner, zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt, was sie nicht nur »stets aufs Neue in Verlegenheit brachte«72, sondern eben auch ausgrenzte. Liane sollte erst im sogenannten »Russenjahr« in der Jiddischen Schule mit Selma und anderen gleichaltrigen Mädchen intensiveren Kontakt aufnehmen. Ohne die Wirren der Zeitgeschichte wären sich Selma und Liane wohl nicht begegnet.
Doch Selma genügte Renées Gesellschaft. Weil Selma wohlerzogen und belesen war, hatte die Familie Abramovici sie gerne zu Gast. Selma verkroch sich dann in der üppig ausgestatteten Bibliothek, las, was ihr in die Finger kam, oder saß Renée zu Füßen, wenn die Freundin Klavier spielte. Zusammensitzen ohne zu reden, Nachmittage lang. Vertrautheit ohne Worte. Selma und Renée wussten auch im Schweigen, wie es jeder von ihnen zumute war.73
Margit konnte sich nicht in den Schulweg der beiden einklinken; er lag in der entgegengesetzten Richtung. Gemeinsame Unternehmungen zu dritt blieben Margit dennoch im Gedächtnis. So wie das »Striezelchen-backen«. Das war Thema der morgendlichen »gospodăriă«, der Hauswirtschaftslehre, gewesen. Die drei Mädchen hatten am Nachmittag bei Margit zu Hause in die Praxis umgesetzt, was ihnen vormittags in der Schule als Theorie serviert worden war. Wirkliche Back-Kunst kam an jenem Nachmittag nicht recht zum Einsatz, die fertigen Striezel hatte Margit beim Bäcker gekauft. Die Mädchen höhlten dann nur noch die Teigtaschen aus und füllten sie mit »Zwiebelchen und Kräutern«, um sie anschließend im Ofen zu überbacken.74 Hauswirtschaft und Handarbeit –»gospodăriă« und »lucrul de mănă«– schien Selma gerne gemacht zu haben. Dass sie 1938 laut ärztlichem Attest verletzt und ausgerechnet von diesen beiden Fächern befreit gewesen war, musste sie betrübt haben.
Margit hat etliche Schnappschüsse aus ihrer Kindheit und Jugend von gemeinsamen Ausflügen mit Freundinnen gerettet: Mal ist sie mit fein herausgeputzten Mädchen in rumänischer Nationaltracht zu sehen, mal inmitten einer fröhlichen Mädchenschar in einem der Strandbäder am Pruth. Selma ist nie dabei, Renée hin und wieder. Zu Margits festem Freundeskreis gehörten aber Livia und Ruth Segal. Schon allein weil die Familien eng befreundet waren. Nathan Segal, der Vater der beiden Mädchen, war der Geschäftspartner von Margits Vater Moritz. Die Mütter fuhren mit den Kindern regelmäßig zur Sommerfrische in die nahen Waldkarpaten. Selma hat Ruth gekannt, ein Jahr lang waren die beiden Klassenkameradinnen, davor hatte Ruth Selmas Parallelklasse besucht. Auch Ruths Schwester, die zwei Jahre jüngere Livia, wird Selma zumindest vom Sehen vertraut gewesen sein, denn auch sie war Schülerin des »Hofmann-Lyzeums«. Selbst wenn Ruth, Livia und Selma während der Schulzeit eher getrennte Wege gegangen waren – das Jahr 1942 wird sie unter den unglücklichsten Umständen zusammenführen.
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