Auch in den Deportationslisten von 1942, als Selma ihren letzten Schicksalsweg antreten musste, wird sie ohne Doppelnamen als »Zelma Meerbaum« erfasst, direkt hinter ihrer Mutter »Frieda Eisingher« und Stiefvater »Leo Eisingher«. Das schwungvolle »S« der rumänischen Eintragung mutierte unter deutschem Überschwang zu einem »Z«.
Der Maler Arnold Daghani, der das Arbeitslager Michailowka überlebte, in dem Selma umkam, zeichnete aus den Namen der im Lager getöteten und gestorbenen Insassen einen Frauenkopf. Darin nahm er auch »Selma Meerbaum« auf. Ohne Doppelnamen, allerdings mit »ee«.
»Eisinger and wife and daughter Meerbaum«
Wie konnte es zu dem Doppelnamen kommen? Er wurde 1976 von Hersch Segal, Selmas ehemaligem Lehrer an der jiddischen Schule, in die Welt gesetzt. Segal wurde 1976 in Israel von Paul Celan-Biograf Israel Chalfen zu Pauls Cousine »Selma Meerbaum« befragt. Der alte Klassenlehrer gab Chalfen den Rat, Selma mit »Selma Meerbaum-Eisinger« zu benennen: »Sie schreiben Selma Meerbaum, sie hiess aber Selma-Meerbaum-Eisinger. … ich glaube am besten Sie schreiben Selma Meerbaum-Eisinger.«56 Zeitgleich edierte Segal Selmas Gedichte im Eigenverlag unter dem Namen »Selma Meerbaum-Eisinger«.
Am Tag ihrer Einschulung im September 1934 wohnte Selma schon in der Bilaergasse 34 (Strada Bilei 34), die nichts mehr vom Charme der Rapfgasse hatte.
Die Mieten stiegen in diesen Jahren rasant. Wenn die Mieter auch noch Juden waren, wurde die Pacht künstlich hochgeschraubt, so dass eine Flut von Kündigungen jüdische Familien aus den guten Wohnungen der besseren Wohngegend in immer billigere Unterkünfte drängte, immer weiter aus der Stadt heraus, immer tiefer den Hügel hinunter, dem Fluss und dem Armenviertel entgegen. Bis Selma und ihre Mutter in der Bilaergasse 34 gelandet waren – einer Verlängerung der feineren Franzengasse, in der Nähe des Güterbahnhofs.
Dort unten am Fuße der »Habsburghöhe« und nur durch die Brücke über den Pruth von den Czernowitzer Vororten getrennt, war Wohnen billig, denn der Grund war günstig. Besitzer von Zucker- und Textilfabriken, Brauereien und Molkereien profitierten davon. Viele Gerber und Schuster hatten sich in ehemaligen Streuobstwiesen angesiedelt. Auch Abraham Meerbaum hatte dort gewohnt, bevor er sich in der Bahnhofstraße ein größeres Haus leisten konnte. Seine Molkerei stand weiterhin auf der grünen Wiese Bilaergasse 16. Den Handeltreibenden war die gute Anbindung an den Güterbahnhof im Norden der Stadt wichtig. Die Eisenbahnstation »Volksgarten«, die den Personenverkehr abwickelte, lag im Süden von Czernowitz.
Das Haus, in dem Selma wohnte, lag direkt im Knie der Straßenbiegung der Bilaergasse – ein imposanter Bau, der mit seinem Jugendstil-Zierrat eigentlich nicht ärmlich wirkte. Von der Straße aus gesehen zumindest nicht. Doch viele Czernowitzer Häuser verfügten über kleine einfache Wohnungen ohne Komfort im Parterre oder Hinterhof. Und so hausten Selma und ihre Mutter in einer Einzimmerwohnung, die »[…] bestand aus einer Küche und einem großen Zimmer. Man ist reingekommen durch einen langen Gang, ein paar Stiegen führten in den ersten Stock direkt in die Küche. Elektrisches Licht gab es nicht. Im großen Zimmer standen die Ehebetten. Am Fußende ein Sofa, auf dem Selma schlief; dann zwei Schränke und dazwischen ein kleiner Schreibtisch für Selma. Kein fließendes Wasser, kein Bad.«57
Wenigstens war ein öffentlicher Brunnen unmittelbar gegenüber der Bleibe, sodass Selma und ihre Mutter keine langen Wege in Kauf nehmen mussten, um Wasser zu beschaffen. Solche armseligen Wohnverhältnisse, wie sie Selmas Freundin Renée beschrieben hat, ergaben sich, wenn Witwen nicht länger beanspruchte Zimmer ihrer großen Wohnung abtrennten und untervermieteten. Vor allem, wenn sie über eine zweite Küche verfügten, die ehemals zu einer Dienstpersonalwohnung gehörte.
Lebte Selma in der kleinen Wohnung in der Bilaergasse möglicherweise nur mit ihrer Mutter? Laut Adressbuch war Leo Eisinger auch 1936 noch in der Steingasse 6 gemeldet in direkter Nachbarschaft zu seinem Vater Moses.
Selmas Wohnhaus Bilaerstraße mit Plakette
»In diesem Haus wohnte die Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger. Czernowitz 5. 2. 1924 – Lager Michailovka 16. 12. 1942.« Auf Deutsch und Ukrainisch informiert heute eine Gedenktafel über die Lebensdaten der so jung umgekommenen Dichterin der Bukowina. Die ehemalige Bilaergasse heißt jetzt Tschernischewskoho-Straße und das Haus trägt nicht mehr die Nummer 34, sondern die Nummer 38. Es präsentiert sich in feschem Orangerosa und Weiß – Farben, die in Czernowitz gerne für Renovierungen von Gebäuden mit Denkmalpotenzial eingesetzt werden. Der Putz bröckelt – die Spuren der Vergangenheit wurden zu hastig übertüncht.58
Gedenktafel in der Bilaerstr. 38
Selmas Schulweg verlangte gute Kondition. Dass Mirabellen-, Nuss-, Holunder- und Kastanienbäume ihn säumten, wird ihn ihr nicht schmackhafter gemacht haben: Der Anstieg war steil und beschwerlich und im Winter sicherlich eine Herausforderung. Ein Ansporn war, dass Renée oben in der Rapfgasse 4 schon vor der Haustüre wartete – immer geduldig, selbst wenn sich Selma verspätete. Und das passierte oft genug. Dann kam Selma abgehetzt, atemlos und verdrossen bei Renée an. Wieder einmal hatte sie mit ihrer Mutter einen Kampf um ihre Zöpfe ausgefochten. Jeden Morgen dieselbe Prozedur. Jeden Morgen derselbe Ärger, wenn die Mutter das dichte krause Haar der Tochter bändigen und für die Schule zu ordentlichen Zöpfen flechten wollte. Selma zeigte sich dann so widerborstig wie ihre Haare. »Die Prozedur war zeitraubend.«59 Und schmerzhaft. Immer wieder wird Selma deshalb ihrer Mutter damit in den Ohren gelegen haben, dass alle Klassenkameradinnen schon den modischen Bubikopf trugen. Selma hasste diese Zöpfe und würde gegen sie aufbegehren. Bis zur Pubertät. Dann hatte sie den Kampf um ihre Haare gewonnen: Die Zöpfe fielen.
Selma und Renée waren für die Klasse 1A eingeteilt worden, die damit eine Klassenstärke von vierundvierzig Schülerinnen erreichte. Zehn Mädchen weniger machte die Parallelklasse schon übersichtlicher.
Klassenfoto 1935. Selma, 1. Reihe, 1. von rechts. Letzte Reihe: Margit, 3. von links; Renée, 4. von links
Zum Schuljahresende scharten sich die Mädchen zum obligatorischen Klassenfoto wie Küken um drei ihrer Lehrer: Streng und scharf gescheitelt thront Selmas Klassen- und Rumänischlehrerin Alma Bogdan in der Mitte. Ihr Selbstbewusstsein und ihre Dominanz manifestierte sie mit jeder ihrer Unterschriften. Bogdan wird flankiert von Professor Schulman, den die Mädchen liebten. Der Fachlehrer für Biologie war gutmütig und ausgeglichen und brachte ihnen die Natur nahe. Selma wird ihn auch verehrt haben.
Selma war nicht nur eine der Jüngsten in der Klasse, sondern gehörte auch zu den Kleinen und sitzt deshalb in der ersten Reihe auf dem Boden. Sie hat das zaghafte Lächeln ihrer Mutter und ist eine der wenigen, deren Haar zu strengen Zöpfen geflochten ist. Margit und Renée waren nicht nur ein Jahr älter als Selma, sondern auch größer und stehen auf Klassenfotos immer in der letzten Reihe. Renée und Margit wurden Selmas Freundinnen. Renée ihre liebste und vertrauteste.
Dieses Klassenfoto des Schuljahres 1934/35 nimmt Strenge und Tristesse von Selmas Schulalltag auf. Ausgerechnet vor der unschönen Fensterfront mit schweren Eisengittern im Hof ihrer Schule wurden die Mädchen aufgenommen. Dabei war das Lyzeum ein imposantes klassizistisches Gebäude mit großzügiger Außentreppe und Grünanlage.
Drei Jahre später bietet das aktuelle Klassenfoto keinen neuen Aspekt. Wieder wenden sich die Mädchen wenig heiter dem Fotografen zu. Immerhin ist die hässliche Wand des Innenhofes diesmal mit einem großen Wandteppich verhängt. Selma sitzt wieder in der ersten Reihe vor ihren Mitschülerinnen auf der Erde. Ihre Haare sind immer noch zu Zöpfen nach hinten geflochten. Die