Selma Merbaum - Ich habe keine Zeit gehabt zuende zu schreiben. Marion Tauschwitz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marion Tauschwitz
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783866743649
Скачать книгу

      Der aggressiven Rumänisierungspolitik setzte König Carol II. nichts entgegen. Erst im Juni 1930 war der Sohn des 1927 verstorbenen Königs Ferdinand aus dem Exil nach Rumänien zurückgeholt und zum König ausgerufen worden. Unrühmliche Liebschaften hatte man ihm übel genommen. Nach dem Tod seines Vaters war er deshalb vorübergehend von der Thronfolge ausgeschlossen und verbannt worden.

      Bis dahin hatten ein Dutzend Regierungen mit staatlich gefördertem Antisemitismus und einem extremen Nationalismus »auf die Marginalisierung der Minderheiten im Wirtschaftsleben und in der letzten Phase auch auf die Enteignung der Juden«47 gesetzt und faschistischen Bewegungen wie der »Eisernen Garde« Vorschub geleistet.

      Den meisten Menschen ging es wirtschaftlich immer schlechter. Im Mai 1937 setzte eine künstlich provozierte Teuerung ein. Der Preis für Butter verdreifachte sich. Brennholz war bald unerschwinglich. Man war dankbar, dass der Brotpreis wenigstens noch konstant blieb. Ein Sündenbock war schnell gefunden: Die Ultranationalisten machten die jüdische Dominanz für die desolate Lage verantwortlich. Der König musste handeln. Und so setzte Carol II. im Dezember 1937 mit den beiden Politikern der »National-Christlichen Partei« Octavian Goga und Alexandru Cuza – ein Dichter der eine, ein Universitätsprofessor der andere – eine faschistische Regierung ein, die Antisemitismus unverhohlen als Teil ihres Regierungsprogramms proklamierte. Die Hakenkreuzfahne, die unmittelbar nach ihrem Regierungsantritt am Czernowitzer Rathaus wehte, signalisierte die Sympathien für den deutschen Nationalsozialismus. Juden wurden nicht länger unterschwellig diskriminiert, die »Eiserne Garde« machte regelrecht Hatz auf sie. Juden wurden aus ihren Dörfern vertrieben, ihr Eigentum beschlagnahmt, ihre rumänische Staatsbürgerschaft aberkannt. Ungeniert hetzte Goga in öffentlichen Reden gegen die »Judenheit« und sprach ungestraft von »Saujuden«48 – die Rumänisch-Orthodoxe Kirche hatte ihren Segen dazugegeben.

      Im Februar 1938 setzte Carol II. der Goga-Cuza-Regierung und den Gewalttätigkeiten der »Eisernen Garde« ein Ende. Er entließ die Regierung und machte sich selbst zum Diktator. Ganz offen suchte er die Nähe zu Hitler und dem nationalsozialistischen Deutschland.

      Als Rumänien 1940 in den Strudel der Auswirkungen des »Hitler-Stalin-Paktes« hineingezogen wurde und seine nach dem Ersten Weltkrieg dazugewonnenen Gebiete durch die neuen Machtkonstellationen wieder verlor, musste Carol abdanken und die Regierungsgeschäfte ab September 1940 General Ion Antonescu überlassen. Besetzung, Krieg und Shoah sollten bald schon Rumäniens Geschichte bestimmen.

      Auch Selma und ihre Freundinnen wussten, dass sie schleunigst das Weite suchen mussten, wenn der warnende Ruf »Die Cuzisten kommen!«49 durch die Czernowitzer Straßen hallte. Die Vertreter der Goga-Cuza-Regierung hatten vor allem im Schulwesen hart durchgegriffen und vollendet, was in den Zwanzigerjahren begonnen worden war: die Rumänisierung der jüdischen Minderheitenschulen. »Juden und Hunden ist der Eintritt verboten«– auch die rumänischen Universitäten wurden zu willigen Vollstreckern dieser Politik.50

      Unvergessen blieb die Affäre um den Studenten David Fallik, die 1926 die Diskriminierung jüdischer Schüler auf die Spitze getrieben hatte: Professor Diaconescu vom renommierten Czernowitzer Aron-Pumnul-Gymnasium – Emil Franzos war dort Schüler gewesen – hatte sämtliche jüdischen Schüler wegen mangelnder rumänischer Sprachkenntnisse bei der Abiturprüfung durchfallen lassen. Mit »ganz ungenügend«51 war einem gesamten Jahrgang der Zugang zu den Universitäten verwehrt worden! Lang angestaute Empörung entlud sich, als die betrogenen Jugendlichen samt Eltern ihren Prüfer auf der Straße abpassten: »Nieder mit dem Bakschisch« skandierte die aufgebrachte Menge und bedrängte den Vertreter der Schulbehörde so massiv, dass die Polizei einschritt, sich junge Leute wahllos herausgriff und festnahm. Dem Studenten David Fallik sollte exemplarisch der Prozess gemacht werden. Noch vor der Urteilsverkündung aber wurde er von einem rumänischen Studenten erschossen. Der Täter wurde freigesprochen. Zwanzigtausend Czernowitzer Juden blieb als Zeichen ihrer Machtlosigkeit nur, ihre Solidarität zu bezeugen und den Sarg des Ermordeten zu begleiten.52

      Als die Rumänin Vera Brateanu zum Schuljahr 1937/​38 die Leitung des »Hofmann-Lyzeums« übernahm, wurde zeitgleich eine weitere Stufe der Rumänisierung umgesetzt: »Liceul Particular de Fete ›Iulia Hașdeu‹ Cernăuți« hieß Selmas Schule nun. Ein Affront. Nicht, weil Iulia sich in jungen Jahren als Dichterin einen Namen gemacht hatte und 1888 achtzehnjährig an Tuberkulose gestorben war. Sondern weil sie die Tochter des Schriftstellers Petre Hașdeu war – einem ausgewiesenen rumänischen Antisemiten.

      Wie jedes kleine Mädchen, dem ein Schulwechsel bevorsteht, wird sich Selma gefreut haben, dass sie im September 1934 in das Lyzeum aufgenommen wurde und die gefürchtete anspruchsvolle Aufnahmeprüfung bestens gemeistert hatte: mit 8,6 Notenpunkten von 10 möglichen! Doch vorher war noch eine unangenehme Bedingung für die Aufnahme in die weiterführende Schule zu erfüllen – die Impfung. Den Pocken-Epidemien, die in Rumänien in den vergangenen Jahren immer wieder Tote gefordert hatten, wurde mit Massenimpfungen begegnet, die im letzten Schuljahr an der Volksschule von einer robusten Krankenschwester vorgenommen wurden. Mit Serum, Spirituslampe und einer Schreibfeder, die in einem Gänsekiel steckte, leistete sie Fließbandarbeit: die spitze Feder in der Flamme desinfizieren, in das Serum tunken, Oberarm damit ritzen. Ein und dieselbe Feder für alle. Bis ein Jahrgang durchgeimpft war. Und weil 1928 eine Masernepidemie in Czernowitz gewütet und Kinder und Erwachsene dahingerafft hatte, gab es noch eine zweite Impfung. Wochenlang waren damals die Schulen geschlossen geblieben, Masern-Impfungen für Schulkinder seitdem Pflicht. Ihre Einhaltung kontrollierte die Schulbehörde penibel.53 Auch bei Selma ist im Zeugniskopf »vaccinată în anul 1934« vermerkt – die Schule konnte beginnen.

      Selma musste sich von Anfang an auf die rumänische Sprache einlassen. Rumänisch war Pflichtfach und stand im Zeugnis an erster Stelle aller Sprachen. Auf Rumänisch waren Vorträge zu halten. Nur auf Rumänisch durften Wortmeldungen eingebracht werden. »Vorbiţi româneşte«54 – Sprecht Rumänisch! Auf Korridoren und in Klassenzimmern forderten überdimensionale Plakate die Einhaltung des Gebots ein. Eigens dafür eingesetztes Personal patrouillierte während der Pausen mit kleinen Reitgerten durch die Gänge, um notfalls mit Gewalt durchzusetzen, was das Wort nicht erreicht hatte. Mit Fantasie und Einfallsreichtum schafften die Mädchen sich kleine Fluchten und übertölpelten die Kontrolleure: Sie hängten deutschen Wörtern kurzerhand rumänische Endungen an und hatten eine Sprache, die nur sie verstanden.

      Lehrer, die sich der Rumänisierung widersetzten, wurden entlassen. Im »Hofmann-Lyzeum« wurden jüdische Lehrer mehr und mehr durch rumänische ersetzt. Auch wenn der Anteil der jüdischen Schülerinnen 1934 noch überwog, so hatte die Schule ihren jüdischen Charakter verloren, seit sie sich allen Konfessionen geöffnet hatte. Von den vierundvierzig Mädchen in Selmas Klasse waren achtunddreißig mosaischen Glaubens. Fünf Mädchen besuchten den römisch-orthodoxen Religionsunterricht. Eugenie Merdinger war als einzige evangelisch.

      Frieda Eisinger hatte bei der Anmeldung Selmas wohl persönlich in der Schule vorgesprochen. Im unhandlichen, übergroß dimensionierten Klassenregister des neuen Schuljahres 1934/​35 waren anfangs von den Neuankömmlingen nur die Familiennamen eingetragen worden. Ein schwungvolles »Eisinger« stand noch über Selmas Halbjahresleistungen, doch war im Endzeugnis des ersten Schuljahres 1934/​35 schon korrigiert auf »Selma Merbaum« ausgestellt worden.55 Und dabei blieb es: Selma hieß nie anders als »Selma Merbaum«– von der ersten bis zur letzten Klasse. Bis die Politik dem »Hofmann-Lyzeum« 1940 den Garaus machte.

      Selmas Stiefvater Leo Eisinger trat namentlich nicht in Erscheinung. Der Name »Eisinger« spielte während Selmas Schulzeit erstaunlicherweise keinerlei Rolle mehr. Dafür mutet die Eintragung im Feld mit den persönlichen Angaben über Selmas Eltern kurios an:

       Kopfzeile in Selmas Zeugnis

      Als »Vater« von Selma fungierte all die Jahre hindurch Selmas Großmutter väterlicherseits unter »Eidel Abisch Merbaum«. Selmas Mutter ist in den Zeugnissen stets nur mit »Friederika Merbaum« und nie mit ihrem Namen »Eisinger« eingetragen, den sie 1927 nach ihrer Hochzeit mit Leo Eisinger doch angenommen hatte.

      Erklärungen dazu finden sich aus