»Gut, hör zu, ich bin mir sicher, dass ich das nicht verstehe, aber …« Nathaniel nahm den Umschlag zur Hand.
»Nein, du verstehst das nicht. Wirklich nicht. Also lass mich einfach. General Horsch füllt die Rolle des Schirmherren für den Gedenktag und das Kriegsdenkmal sehr gut aus. Er ist ein großartiger Mann, ein verdienter Soldat, und er war der Kommandeur des Internationalen Alliiertenverbandes.«
»Du gibst vor deiner Angst klein bei, Kumpel.«
»Kleinbeigeben?« Ha! »Du glaubst, das sei Kleinbeigeben? Ich habe mir das Recht verdient, eine Entscheidung zu treffen.« Stephen schlug sich die Hand vor die Brust und zügelte seine Ängste. »Aber sag nie, ich hätte nachgegeben. Ich stehe jeden Tag auf, trete dem Leben entgegen und erinnere mich daran, was an jenem Tag in Torcham passiert ist.«
Seine Stimme verstummte, und die Kacheln der Küche warfen das Echo der Stille zurück.
»Es tut mir leid«, sagte Nathaniel nach einem Moment. »Aber ich bin aus einem ganz anderen Grund hier. Über die Krönung können wir ein andermal sprechen.« Nathaniel reichte Stephen das Kuvert. »Das hier müsstest du mir bitte mal erklären.«
Stephen drehte den Umschlag hin und her. »Das ist eine weiße Versandtasche in einem gewöhnlichen DIN-Format. Sowas verwendet man gewöhnlich zum Verschicken von Drucksachen oder vielleicht auch dazu, Akten und Papiere aufzubewahren.«
»Sehr witzig. Mein Bruder, der Spaßvogel. Schau rein. Schau dir an, was da drin ist.« Nathaniel beugte sich vor und schnipste mit dem Finger gegen die Kante des Umschlags. »Ich habe Mama gegenüber kein Wort über die Sache verloren, weil sie das völlig fertigmachen würde.«
In seinen 31 Jahren hatte er seine Mutter schon öfter »völlig fertiggemacht.« Aber das war als junger Mann gewesen. Seit seiner Zeit an der Universität war das nicht mehr vorgekommen. Jedenfalls seines Wissens nach. Er hatte hart daran gearbeitet, seinen Ruf als »Versager-Prinz« auszulöschen. Ein Versuch, bei dem er sich stets bemühte, aber immer wieder scheiterte.
»Fertigmachen? Was redest du da?« Eine unheimliche Vorahnung griff mit eisigen Fingern nach Stephen, als er das Papier aus dem Umschlag zog. Er fluchte kaum hörbar. »Woher kommt das?«
»Also ist es wahr?«
Stephen starrte auf die goldverzierte Urkunde mit den eingeprägten Lettern. »Ein Stück weit. Nicht so richtig. Ich meine, ja, wir sind nach Hessenberg gefahren und … Wo hast du das her?«
Erinnerungen, Gefühle, eine Sehnsucht, die er längst überwunden geglaubt hatte, durchströmten ihn.
»Erzbischof Burkhardt ließ es mir per Spezialkurier zukommen. Er ist äußerst besorgt.« Miles Burkhardt war das aktuelle Oberhaupt der Kirche im Großherzogtum Hessenberg, Brightons verschwisterter Nordseeinselnation. »Ihm ist die Urkunde in seinem Büro in die Hände gefallen. Er fand sie in einem Geheimfach, das Erzbischof Caldwell ihm gegenüber nie erwähnt hatte. Er war dabei, vor einer Umgestaltung des Büros Dinge zu sortieren und auszuräumen, und da war es und zeigte sich.«
»Dann mach dir keine Gedanken darum.« Stephen steckte die Urkunde wieder in den Umschlag. Sein Kopf erinnerte sein Herz daran, dass das hier keine große Sache war. »Ich habe die Papiere nie bei den Ämtern offiziell gemacht. Das hat gar keinen rechtlichen Bestand. Und wir haben die Sache sowieso beendet, als ich von meinem Einsatz zurückkam.«
»Beendet?«
Nathaniels gerunzelte Stirn irritierte Stephen. Verstand er es denn nicht?
»Wie hat das geendet?«
»Ich weiß es nicht.« Aber doch, er wusste es, wusste es ganz genau. Lügner. »Sie ist ihres Weges gegangen, und ich bin meines Weges gegangen.« Er war das Ganze sooft innerlich durchgegangen, um sich davon zu überzeugen, dass er das Richtige getan hatte. Um sich davon zu überzeugen, dass es ihm übrigens auch gar nichts ausmachte. Egal wie, es musste jedenfalls beendet werden. Also hatte er es beendet.
»Stephen«, sagte Nathaniel, stand auf und schnappte sich den Umschlag. »Du bist verheiratet.«
»Nein, bin ich nicht. Ich habe nie den behördlichen Teil des Ganzen abgewickelt.«
»Hast du denn dann die Ehe bei der Kirche aufheben lassen? Diesem Papier hier zufolge …«, Nathaniel schwenkte die Heiratsurkunde, als sei sie eine Art Du-hast-es-einmal-mehr-versemmelt-Flagge, »bist du nämlich immer noch verheiratet.«
»Aufheben lassen? Wie hätte ich das tun sollen? Keiner wusste davon. Das hast du selbst gesagt … Dieses Ding …«, jetzt war es Stephen, der gegen den Umschlag schnipste, »… war in einem Geheimfach versteckt. Die Ehe war nie offiziell.«
»Bist du so schwer von Begriff? Eine Ehe, die von einem Erzbischof geschlossen wird, ist automatisch bei der Kirche aktenkundig. Das ist so gut wie eine behördliche Anerkennung, wenn nicht sogar schwerwiegender.«
»Aber Bischof Caldwell hat die Ehe nie aktenkundig gemacht.« Wie lange wollten sie sich denn noch im Kreise drehen? Stephen war alles klar. Er war nicht verheiratet. Er war aus Afghanistan zurückgekehrt mit dem festen Vorsatz, professionell Rugby zu spielen und die Beziehung zu seiner Ehefrau zu beenden.
»Bist du so naiv? Du bist Mitglied des Königshauses. Wenn diese Urkunde bezeugt, dass du Corina Del Rey am …«, Nathaniel zog die Urkunde wieder aus dem Kuvert und studierte sie, »… am dritten Juni vor sechs Jahren geheiratet hast, dann bist du verheiratet, kleiner Bruder.«
»Unmöglich.« Stephen ging nachdenklich in der Küche auf und ab. Seine Gedanken stießen hart mit den Gefühlen zusammen, die sich in ihm Bahn brachen. »Ich habe sie noch nicht einmal gesehen, seit –«
»Das ändert nichts an dieser unterschriebenen und versiegelten Urkunde. Du bist vor Gott und der Kirche verheiratet. Es sei denn, du hast die Annullierung eingereicht. Hast du das?«
»Nein!« Er zerschnitt die Luft mit einer weiten Armbewegung. »Es war ein Geheimnis. Der Erzbischof versprach, die Urkunde bei sich zu behalten, bis ich sie abholen komme.«
»Nun, da hat er sich also als vertrauenswürdig bewiesen. Leider hat er auch Erzbischof Burkhardt gegenüber keine Silbe darüber verraten. Hat Caldwell dir denn nicht erzählt, dass dieses Zertifikat dich rechtskräftig verheiratet, egal, ob du es bei den Behörden offiziell machst oder nicht?«
Nein. Vielleicht. Ja. Stephen fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Seine zerzausten Locken standen wild in alle Richtungen ab. Ungestüm. Es war eine spontane, ungestüme Entscheidung gewesen. Sie waren verliebt gewesen und er kurz davor, an seinen Einsatzort zu fliegen. Bevor er abreiste, hatten sie vier Wochen, um Mann und Frau zu sein. Sie wollten ihr Geheimnis das halbe Jahr über, das er weg sein würde, bewahren und es dann seiner Familie mitteilen wollen, dann ihrer, und am Ende der ganzen Welt.
Er war gut darin, aus dem Bauch heraus ungestüme Entscheidungen zu treffen. Es waren die Dinge, bei denen er zögerte, die am Ende oft schiefgingen. Wie an jenem Tag in Torcham. Wie an jenem Tag auf dem Spielfeld bei der Seven Nations Championship, als er bei seinem Manöver mit einem Abwehrspieler der England Lions gezögert hatte.
»Hast du sie geliebt?«
»Ich glaube schon, ja …«
Nathaniel atmete aus und strich sich mit der Hand über den Kopf. »Du heiratest die Tochter einer amerikanischen Millionärsdynastie und erzählst keinem etwas davon?« In seinen Augen loderte Feuer auf. Seine Nasenlöcher weiteten sich. Stephen verabscheute seinen Tonfall.
»Ja, ich habe sie geheiratet. Was macht das schon?« Er nahm seinem Bruder das Kuvert wieder weg. Der mochte zwar sein Bruder und sein König sein, aber deswegen war er weder sein Vater noch sein Gewissen noch Gott höchstselbst. »Wenn ich mich recht erinnere, mochtest du sie.«
»Wo ist sie jetzt?« Nathaniel stemmte die Hände in die Hüften und sah sich übertrieben in der Küche um. »Ich sehe keine Fotos. Keine Erinnerungsstücke. Keine Spur davon, dass sie je in deinem Leben