»Ich habe keine Ahnung. Aber ich werde der Sache nachgehen, wenn ich wieder zu Hause bin, das kannst du mir glauben. Es kommen nur wenige Leute dafür infrage.«
»Wann fliegst du?«
»Sonntag.«
Seine Antwort hing zwischen ihnen.
»Meine Bedingung gilt noch«, sagte sie.
»Meine Antwort auch. Ich verstehe nicht, warum du nicht selbst zu der Einsicht kommst …«
»Einsicht? Nichts hat in den letzten fünfeinhalb Jahren auch nur das kleinste Fitzelchen Sinn ergeben. Dass du mich verlassen hast nicht, dass meine Eltern sich auseinandergelebt haben auch nicht. Wenn man so will, ist Carlos‘ Tod das Einzige, dass Sinn ergibt. Er ist in den Krieg gezogen, und im Krieg sterben nun einmal Menschen. Aber wie er starb? Das ergibt auch keinen Sinn. Was soll die Geheimniskrämerei? Und dieses Schachern zwischen uns? Das ist das einzige Pfund, mit dem ich wuchern kann. Die einzige Möglichkeit für mich, herauszufinden, warum ich plötzlich so ganz alleine dastehe.«
Er schluckte und wandte sich stumm ab.
»Manchmal möchte ich heim nach Marietta fahren und sagen: ›Mama, Daddy, euer Sohn ist nicht umsonst gestorben.‹« Corina starrte in die Apfelschüssel. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Draußen trieb der jaulende Wind die ersten Regentropfen des Sturms gegen die Fensterscheiben.
So viele Apfelschnitze würden sie nie essen. Sie öffnete eine Schublade und holte eine Plastiktüte heraus.
Stephen zeigte auf seinen Fuß. »Ich müsste mal meinen Knöchel hochlegen.«
»Brauchst du Eis?«
»Nein, danke. Ich muss ihn nur hochlegen.«
Sie zeigte auf einen der Komfortsessel. »Bitte, bedien dich.«
»Corina«, sagte er langsam, zögernd, seine Gedanken abwägend. »Dein Bruder ist als Held gestorben.«
Sie sah Stephen lange forschend an, wählte ihre Worte sorgfältig. Sie war bereit, mehr Details einzufordern, darauf zu bestehen, dass er mehr wissen musste, als er zugab. Sie fühlte instinktiv, dass das der Fall war. Aber anstatt mehr zu verlangen, drängte ein Bekenntnis aus ihrem Herzen herauf. »Weißt du, worüber ich nachdenke?«
Er schüttelte den Kopf. Immer noch stand er zwischen Küche und Wohnbereich. Sein dunkles Haar wirbelte um den Kopf, seine Augen waren fest, sein Kiefer angespannt.
»Habe ich ihn genug geliebt?«
»Ihn genug geliebt?«, fragte Stephen. »Was meinst du? Ich habe noch nie Geschwister kennengelernt, die sich mehr um einander gekümmert, sich inniger geliebt hätten. Ich würde sagen, du hast ihn mehr als genug geliebt.«
Die Unterhaltung wühlte Corinas verborgene, tiefere Gefühle auf. »Aber hab ich ihn wirklich genug geliebt?«
Der Gedanke, genug zu lieben, war Corina zum ersten Mal gekommen, als sie auf dem Boden einer alten Kapelle vor den Toren Mariettas geweint hatte, gleich nach Carlos‘ Beerdigung, gleich nachdem sie Stephen zum zigsten Mal angerufen und keine Antwort bekommen hatte, als ihr erschüttertes Herz befürchtete, sie hätte auch ihn verloren.
Herr, wie kann ich nur ohne sie leben?
»Da war so ein Abend, kurz bevor er ausschiffte«, fing sie an, bedächtig. Sie wählte ihre Worte vorsichtig und öffnete die Tür zu ihrem Herzen nur einen kleinen Spalt breit für den Prinzen. »Carlos kam bei mir vorbei. Du warst auf dem Stützpunkt und hast da irgendwas gemacht. Natürlich waren wir da noch nicht verheiratet, aber wir waren verliebt.« Sie räusperte sich und atmete tief, um die Tränen zurückzuhalten. »Ich wollte ihm um jeden Preis von uns erzählen, dass es etwas Ernstes war mit uns. Carlos und ich hatten nie Geheimnisse voreinander gehabt. Außerdem wart ihr beide Freunde, also dachte ich, warum sollte ich ihn nicht auf den neuesten Stand bringen? Du warst meine erste wahre Liebe.
Aber irgendwie schien er etwas auf dem Herzen zu haben, also habe ich uns Tee gekocht, Kekse rausgestellt und darauf gewartet, dass er auf den Punkt kommt. Oh, der Bursche brauchte manchmal ewig, um etwas zur Sprache zu bringen, weißt du noch? Also habe ich angefangen, meine Wäsche zu machen, das Geschirr abzuwaschen, eine SMS von einer anderen Reporterin zu beantworten …
Und dann hast du angerufen, um mir zu sagen, dass du fix und fertig seist und nach Hause fahren wolltest, um dich auszuruhen. Ich saß auf dem Fußboden in der Küche, schön in die Ecke gekuschelt, lächelte und hörte mir an, wie du mir erzähltest, dass du mich liebst …« Sie unterbrach sich. Diese Unterhaltung von anno dazumal zu wiederholen führte doch zu nichts. »Als wir auflegten, fragte mich Carlos, wie’s lief. Er mochte dich, weißt du, schon seitdem ihr für den Alliiertenverband ausgebildet wurdet.«
»Hast du es ihm erzählt?«
»Nein, weil mir klar war, dass ihn etwas beschäftigte. Man musste Carlos in Frieden lassen, um ihm die Sachen entlocken zu können. Also schauten wir eine Weile fern, und dann ging er. Er hat mir nie erzählt, warum er gekommen war, ob ihn irgendetwas bekümmerte oder nicht. Zwei Tage später schiffte er aus.«
»Wie soll das denn nicht genug lieben sein? Er war ein großer Junge. Er hätte dir ja sagen können, was ihn beschäftigte, wenn er das gewollt hätte.«
»Verstehst du das nicht? Ich war so sehr mit meinem eigenen Leben beschäftigt und damit, dich zu lieben … Ich glaube, er spürte, dass sich da etwas zwischen uns gedrängt hatte. Und er war sich nicht sicher, wie er danach fragen sollte. Ich hätte es ihm einfach erzählen sollen.« Ihre tränenerfüllte Stimme brach. »Mir kam es so vor, als hätte ich ihn ignoriert, nachdem wir beide angefangen hatten, miteinander auszugehen. Ich glaube, er empfand das genauso. Ich war so eng mit dir, dass ich meine Beziehung zu Carlos vernachlässigt habe. Es war komisch, anders zwischen uns Ende Mai, bevor er abreiste.«
Sie nahm sich eine Serviette aus dem Körbchen auf dem Kühlschrank und putzte sich die Nase, wischte sich die Augen. »Ich erinnere mich, wie er an einem Abend anrief und mich fragte, was ich gerade mache, und ob ich nicht Lust hätte, im Pub was zu essen. Ich sagte nein, weil ich mit dir verabredet war. Aber habe ich Carlos eingeladen, mitzukommen? Nein, weil ich mit dir alleine sein wollte. Ich – ich glaube, er hat mich vermisst, Stephen. Ich bin ihm nach Brighton hinterhergezogen, um mit ihm dort sein, für ihn da zu sein. Aber dann ging es nur um mich und meine Gefühle.« Sie sackte gegen die Theke. In ihrer Brust drängte sich ein Schluchzer an den anderen. »Ich habe nicht bemerkt, dass mein Bruder vielleicht Angst haben könnte oder sogar schon Heimweh, weil er nicht wusste, was ihn in der Wüste in Afghanistan erwarten würde.«
Sie vergrub das Gesicht in den Händen und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Es war Jahre her, dass sie ihrem Herzen erlaubt hatte, diese düstere Straße der Erinnerung entlang zu schleichen.
Stephens Hand berührte sie sachte. Dann legte er ihr den Arm um die Schulter und drückte ihren Kopf gegen seine Brust. Er roch sauber, nach Weichspüler, nach Gewürzen und purer Natur.
»Psst, Liebes. Carlos wusste, dass du ihn liebst. Dessen bin ich mir ganz sicher.«
Sie schob ihn von sich weg. »Nein, tu das nicht.« Frustriert darüber, dass sie sich vor ihm so verletzlich gemacht hatte, sammelte sie sich und holte Luft, holte ihre Gefühle zurück, atmete so tief ein, dass ihre Lunge schmerzte.
»Ja, er wusste, dass ich ihn geliebt habe. Wir hatten eine enge Verbindung zueinander, weißt du? Du warst sein Freund, aber kanntest du ihn auch als einen vollendeten Zuhörer? Das war er nämlich.« Über Carlos zu sprechen fühlte sich gut an. Mama und Daddy mochten das nicht. »Und trotzdem hat er Stunden gebraucht, um zu sagen, was er sagen wollte. In der Highschool hat seine Freundin Kerri mit ihm am Ende unseres vorletzten Jahres Schluss gemacht, aber ich habe das erst am Ende der Sommerferien erfahren, nachdem wir schon sechs Wochen in unserem Haus auf Hawaii zusammen verbracht hatten. Ich wusste, dass ihn irgendetwas umtreibt, aber ich habe meiner eigenen Welt nie gesagt, sie soll still sein, damit ich seiner zuhören konnte. Er ging an diesem Abend nach Hause, und