1.3 Selbstbeschreibung
(a) Sprache und Sinnbildung
Verständigung über sich verbleibt nicht im Binnenraum des Selbst. Sie vollzieht sich nicht nur im Raum subjektiver Bilder, Vorstellungen, Gefühle und Einstellungen. Sie bedarf, um über sich Klarheit zu gewinnen und für das Subjekt selbst zu einem stabilen Orientierungsrahmen zu werden, der Artikulation des Gedanken in der sprachlichen Äußerung. Sprache ist das Medium des Sinns, in welchem Erlebnisse und Ereignisse ihre Bestimmtheit gewinnen und für das Subjekt konkret fassbar, in ihrer Bedeutung, ihren Voraussetzungen und Folgen verstehbar werden. Sprache ist nicht nur das Organ der Kommunikation mit anderen, sondern zuvor für den sprechenden Menschen selbst das Medium der Erschließung der Welt und seiner selbst. In der Versprachlichung durchdringt der Mensch seine Erfahrung, erarbeitet er sich ein Verständnis der Dinge und Geschehnisse, ordnet er die erlebte Geschichte und die wahrgenommene Umwelt. Mittels der Sprache, des Bemühens um den richtigen Ausdruck wird er sich über die eigenen Empfindungen und Meinungen klarer, gliedert und strukturiert er diffuse Befindlichkeiten und Absichten, unternimmt er eine Deutung seines Lebens und gibt diesem eine identifizierbare Gestalt. Sprache ist das originäre Medium der Sinnbildung, der Transformation der Fakten und Stoffe in verstehbare Gegenstände, die untereinander in Konstellationen treten und vom Subjekt in bestimmter Weise aufgefasst werden. Dabei kommt der ›Sinn‹ nicht primär in der normativen Bedeutung eines Zwecks oder einer höheren Bestimmung (wie in der Rede vom Sinn eines Opfers, Sinn des Lebens) ins Spiel, sondern in der hermeneutischen Verwendung als ›verstehbare Bedeutung‹ (wie beim Sinn eines Zeichens, eines Satzes). Sinnbildung heißt zunächst, Ereignisse, Handlungen oder Institutionen darauf hin zu erfassen, ›als was‹ sie gemeint sind oder in einem bestimmten Zusammenhang fungieren. Sprechend vollziehen wir diese Als-Wahrnehmung oder Als-Interpretation, durch welche die uns umgebende Welt ihre Stummheit verliert, etwas bedeutet und zu uns spricht.
Darin wird Sprache zum genuinen Medium des Erkennens. Indem der Mensch sein Sein und Erleben zur Sprache bringt, indem er die gesellschaftlich sedimentierte sprachliche Formierung der Welt entziffert, erkennt er sich selbst und die Welt. Sprache beschreibt nicht nur ein schon Erkanntes, sondern ist selbst ein Instrument des Erkundens, des Identifizierens, Klassifizierens und Deutens; sie reproduziert nicht ein Vorgegebenes, sondern ist selbst ein Mitttel des Hervorbringens, der Konstitution der gegliederten Welt und des eigenen Selbst. Menschliches Sprechen hat in gewisser Weise an der Schöpfungsmacht des göttlichen Wortes teil, indem es zwar nicht wie dieses aus dem Nichts oder zur Gänze schafft, wohl aber Seiendes in jener Bestimmtheit entstehen lässt, in der es für uns sinnhaft fassbar wird und unsere Welt, unseren Lebenskreis ausmacht. Erst als sprachlich imprägnierte wird die Welt zu der Welt, in welcher wir leben; erst als sprachlich ausformulierte wird Selbstverständigung zum Gefäß der Existenz.
Nun ist innerhalb der Sprache ein kulturtechnischer Schritt von Belang, der dem Übergang vom diffusen zum geformten Gedanken, der Herausbildung der konkreten Welt zusätzliches Profil und Gewicht verleiht. Es ist der Schritt der Schrift, der äußerlichen Fixierung der Sprache im lesbaren Zeichen. Schrift ist keine universelle Komponente menschlicher Verständigung und menschlicher Kultur. Gesellschaften können sich organisieren und sich eine institutionelle Verfassung über orale Traditionen und praktizierte Konventionen geben. Auch die Äußerung, deren eine reflektierte Selbstverständigung bedarf, kann in schriftloser Artikulation, in einer elaborierten Erzählung und differenzierten Kommunikation ohne textuelle Fixierung vonstatten gehen. Dennoch ist der Übergang zur Schrift keine kontingente Zutat, sondern, einmal vollzogen, wie eine irreversible Grundgegebenheit der sprachlichen Welt- und Selbstkonstitution. Sie ermöglicht nicht nur eine größere – soziale und temporale – Reichweite, sondern eine gesteigerte Reflektiertheit der Verständigung. Schrift, die den Ausdruck festhält, erlaubt eine besondere Weise des Reidentifizierens, aber auch des Zurückkommens, Befragens, Vertiefens und Weiterführens, der kritischen Auseinandersetzung mit sinnhaften Gebilden, Traditionen und Theorien. Sie kann Grundlage der Starrheit einer Lehre sein, aber ebenso der Entdogmatisierung dienen, indem sie divergierende Lesarten und verworfene Alternativen festhält und der diskursiven Verflüssigung zugänglich macht. Nach ganz verschiedenen Hinsichten bildet Schrift das Element der kognitiven Durchdringung, sozialen Begründung, historischen Konsolidierung und reflexiven Aneignung der Welt. Sie bildet eine spezifische Grundlage und ein strukturierendes Ingrediens der individuellen und sozialen Lebenswelt. In gewisser Weise wird die konstitutive Leistung sprachlicher Artikulation und Schöpfung durch die Verschriftlichung erweitert und in sich potenziert. Nicht umsonst gilt die schriftstellerische Tätigkeit als Paradigma der erschließenden, gestaltenden und kreativen Durchdringung des eigenen Lebens und der gemeinsamen Welt. Der Prozess der Sinnbildung erfolgt über eine vergegenständlichenden Äußerung, wie sie auch der bildende Künstler vollzieht und wie sie exemplarisch der Schriftsteller realisiert, für den nach Claude Simon der Sinn nichts Vorgegebenes ist, das er dem Publikum zu zeigen und weiterzugeben hätte, sondern etwas, das er im Laufe seiner Arbeit in der Sprache erzeugt, deren Resultat unendlich reicher als die anfängliche Intention ist. Es ist eine Arbeit, deren Unwegsamkeiten Simon in seiner Nobelpreis-Rede ähnlich beschreibt wie sie Proust geschildert hatte: »L’écrivain progresse laborieusement, tâtonne en aveugle, s’engage dans des impasses, s’embourbe, repart – […] toujours sur des sables mouvants.«7 Doch nicht nur die Mühsal, sondern ebenso die eminente Macht der sprachlichen Vergegenwärtigung, die Ausdruck wie Entdeckung und schöpferische Gestaltung ist, tritt uns im Werk des Schreibens entgegen. Sie nähert die Leitidee der Selbstverständigung dem Motiv der Selbstbeschreibung an.
(b) Ausdruck und Selbstbeschreibung
Nach Richard Rorty gibt es für Menschen nichts Wichtigeres, als sich immer wieder selbst neu zu beschreiben.8 Die pointierte Formel knüpft an eine Grundeinsicht der existentiellen Hermeneutik an, welche besagt, dass menschliches Leben ein grundlegend verstehendes Leben ist, worin Menschen immer schon ein bestimmtes Verständnis ihrer selbst haben, Bilder von sich und Interpretationen der Welt entwerfen, in deren Horizont sie leben. Im Gedanken der Selbstbeschreibung führt Rorty die beiden vorausgehenden Leitideen, die Reflexivität des sich über sich verständigenden Lebens und die schöpferische Kraft sprachlichen Ausdrucks, zusammen, indem er sie zugleich mit der Idee eines emphatischen Selbstseins verbindet, das sich selbst behauptet und in der Selbstbeschreibung zu sich selbst findet. Solche Selbstfindung kommt nicht in der Introspektion, sondern über den Ausdruck zustande. Nicht indem er in sich geht, sondern indem er sich äußert und sich in seiner Äußerung erkennt, kommt der Mensch zu sich, versteht er sich selbst. Die Figur entspricht dem hermeneutischen Grundsachverhalt, den Wilhelm Dilthey dem menschlichen Sein und aller kulturellen Wahrnehmung zugrunde legte, dem »Zusammenhang von Leben, Ausdruck und Verstehen«9; was für Dilthey das Fundament geisteswissenschaftlicher Forschung bildet, definiert gleichermaßen den Kern subjektiver Selbsterkenntnis und Selbstbeschreibung. Des näheren lassen sich im Konnex von Ausdruck und Selbstverständnis zwei Stoßrichtungen ausmachen, die sich in der Figur der Selbstbeschreibung verschränken: die Ideen der Selbstfindung und der Selbsthervorbringung.
Auf der einen Seite entdecken wir uns selbst im Ausdruck. Wir werden mit uns bekannt, finden die eigene Stimme im Gespräch mit anderen. Wir lernen unsere Leidenschaften und Gefühle kennen, begegnen unseren Ängsten und Phantasien