(b) Formen der Erinnerung
Neben den Räumen interessieren die Gestalten und Prozessformen des Erinnerns. Psychologische, neurologische und kulturwissenschaftliche Analysen haben dazu unterschiedliche Differenzierungen vorgenommen und vielfältigste Modelle erarbeitet; sie können hier nicht unser Thema sein. Als Grundlage für das Folgende seien nur zwei grundlegende Unterscheidungen festgehalten, die das lebensweltliche Feld der Erinnerung strukturieren.
Die erste ist die Differenz zwischen spontan aufkommenden und intentional herbeigeführten Erinnerungen. Es gibt auf der einen Seite das Aufblitzen von Erinnerungsbildern, die durch äußere Anlässe provoziert, durch Stimmungen und Dispositionen in uns hervorgerufen werden, durch unbekannte Ursachen aus dem Dunkel emergieren. Auf der Gegenseite gibt es das bewusste Bemühen um Erinnerung, von mnemotechnischen Memorierungsübungen bis zur lebensgeschichtlichen Erinnerungsarbeit und zu komplexen historischen Forschungen. Beides gehört zu der Art und Weise, wie Vergangenheit im Leben der Menschen anwesend wird, wie Vergangenes in das Heute einbricht, wie es in der Rückschau aufgesucht und gefunden wird. Beide Wege überkreuzen und überlagern sich, die methodische Arbeit des Gedächtnisses kann durch das plötzliche Hervortreten von Bildern vergangener Zeiten unterbrochen werden, sich in Wechselwirkung mit diesen vollziehen, in ihrem Dienst stehen und durch sie vorangebracht werden.
Die andere Unterscheidung ist die von Edmund Husserl exemplarisch herausgearbeitete Differenz zwischen dem Nachhall der implizit noch anwesenden, stufenweise sich abschwächenden Eindrücke des Vergangenen und der gezielten Wiederherstellung und bewusstseinsmäßigen Erneuerung früherer Ereignisse und Erfahrungen: zwischen ›Retention‹ und ›Reproduktion‹, ›primärer‹ und ›sekundärer‹ Erinnerung, zwischen der sich sukzessiv entziehenden Gegenwärtigkeit des Einst und seiner reflexiven Ver-Gegenwärtigung.32 Husserl expliziert das Spezifische der retentionalen Erinnerung am Beispiel des Melodiehörens, wo das Nachklingen und Noch-Präsent-Haben erklungener Töne konstitutiv zur Wahrnehmung einer Melodieform dazugehört; das Beispiel lässt sich auf verschiedene Wahrnehmungs- und Verstehensvollzüge – das Erfassen einer Rede, einer Bewegung, einer Filmsequenz – übertragen, die zeitlich verfasst sind und nicht in der Aktualität des Hier und Jetzt aufgehen können. Husserls klassische Analyse bezieht sich auf den Nahhorizont, innerhalb dessen die Konstitution eines konkreten Wahrnehmungsgegenstandes nicht ohne den Schatten des Nichtmehr-Gegenwärtigen, des Soeben-Wahrgenommenen – und korrelativ der antizipierten Fortführung des Erlebens – zustandekommt. Indes könnte man die Struktur auch zeitlich ausweiten und sie auf die nicht-thematische Anwesenheit des Vergangenen im größeren Zeitradius anwenden, auf die Art und Weise, wie ein erfreuliches oder trauriges Erlebnis von heute früh auf mein jetziges Empfinden und Tun abfärbt, wie ein gestriger Misserfolg noch unbewältigt und psychisch anwesend ist, wie meine Lebensgeschichte, letztlich die umfassendere Geschichte, der ich zugehöre, mein Wollen und Handeln prägen, in mein Selbstgefühl und mein Weltverhältnis eingehen. Dieser impliziten, nicht-aktualisierten Präsenz des Vergangenen steht die thematische Wieder-Vergegenwärtigung entgegen, die das Erinnern im normalen Verständnis ausmacht. Hier kommt das weite Feld der eigentlichen Erinnerungsarbeit in den Blick, die sich in mannigfachen Formen, in unterschiedlichen Medien vollzieht und den Untersuchungsgegenstand der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung bildet. Es ist der Rahmen, innerhalb dessen die Fragen nach der angemessenen Methode, nach den Schwierigkeiten und Problemen, dem existentiellen Interesse, den sozialen und kulturellen Funktionen der Erinnerung aufgeworfen und kontrovers debattiert werden.
In unserem Zusammenhang werden diese Fragen, die auch den Horizont der vorliegenden Untersuchung bilden, in einem engeren Fokus ins Auge gefasst. Sie interessieren im Blick auf die eingangs umrissene Idee einer lebensgeschichtlichen Erinnerung, das Wunschbild einer gelingenden Lebensbeschreibung, wie sie Marcel Proust am Ende seiner Erzählung in ihrem Versprechen und ihren Schwierigkeiten umreißt. Diese Idee soll im Folgenden schrittweise konkretisiert werden.
Auszugehen ist vom Ideal einer erfüllten Gegenwart, wie sie Proust exemplarisch im Aufbrechen der Vergangenheit im Jetzt in Erlebnissen der mémoire involontaire beschreibt und wie sie ihm als utopische Richtschnur einer gelingenden Lebenserinnerung vor Augen steht. Es ist eine Erinnerung, die sich durch den Charakter des Unwillkürlichen von der methodischen Gedächtnisarbeit, durch die erfüllte Aktualität von der abgeschwächten Präsenz der Retention unterscheidet. Es ist eine lebensweltlich vertraute Erinnerungsform, die nicht auf jene singulären, emphatischen Augenblicke beschränkt sein muss, welche Proust in berühmten Passagen vergegenwärtigt, sondern die im Alltagsleben der meisten, sei es flüchtig und schwach, zuweilen aufscheinen kann und über fließende Übergänge mit den anderen Gedächtnisformen des nichtthematischen Inneseins und des bewussten Vergegenwärtigens verbunden ist.
Gegenläufig zur spontanen Erinnerung steht sodann die reflektierte Bemühung um ein Wiederfinden und Rekonstruieren des Vergangenen zur Diskussion. Es geht um jene große Arbeit, vor deren Unermesslichkeit Prousts Erzähler zurückschreckt und die der Autor Proust beharrlich in Angriff nimmt. Zu verdeutlichen sind die Wege und Umwege, welche die Erinnerung einzuschlagen hat, die Aufarbeitung des Vergangenen und die Vermittlung des Ausdrucks, über welche der Mensch sein Leben aneignen und in seinem Leben sich selbst gegenwärtig werden kann. Zu reflektieren sind ebenso die Widerstände und Schwierigkeiten, die sich der Erinnerung entgegenstellen und die nicht nur der temporalen Entrückung, sondern dem Unerledigtsein und der Unabgegoltenheit des Vergangenen selbst entstammen. Vor dem Hintergrund der Wege und Hindernisse ist abschließend die Frage zu vertiefen, worin das eigentliche Interesse der Lebensbeschreibung liegt, was das Ziel einer im Ganzen gelingenden Erinnerung ausmacht und wie sich in ihr das Ideal einer Selbstpräsenz im Leben verwirklicht.
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