5. Die Suche nach dem Absoluten
Liebe ist großartig, aber Liebe wird auch enttäuscht. Im Enttäuscht-Werden und im Vertrauensbruch liegt eine tiefe Kränkung. Jemand ist vom besten Freund enttäuscht worden, womöglich wurde er sogar bewusst getäuscht oder verraten. Dieser Schmerz sitzt tief. Nach einer solchen Erfahrung können manche Menschen oft lange Zeit kein neues Vertrauen aufbauen oder bleiben gar ein Leben lang misstrauisch. Ist aber der akute Schmerz zur Ruhe gekommen, kann trotz allen Enttäuscht-Seins und in allem Zerbrochenen die Sehnsucht nach dem Nicht-enttäuscht-Werden, nach dem Unzerbrechlichen und nach dem Absoluten aufkeimen.
Wenn gesagt wurde, dass der Mensch das Endliche nur deshalb als endlich erkennen kann, weil er schon im Raum des Absoluten steht, dann gilt dies in ähnlicher Weise für das hier Gesagte. Angesichts der Endlichkeit, des Mangels und der Fehlerhaftigkeit menschlichen Handelns erkennt der Mensch, dass es so nicht sein sollte. Er spürt intuitiv, dass es anders sein könnte, dass der Mensch dem anderen vertrauen können sollte, dass eine Liebe gelingen könnte und ein Vertrauen nicht immer gebrochen werden muss. Bezog sich die erste „Absolutheitsausrichtung“, (dass der Geist immer schon auf das Absolute ausgerichtet ist), auf das Erkennen, die Wahrheit und die theoretische Vernunft im Sinne Kants, bezieht sich die hier beschriebene Ausrichtung auf das Absolute im Bereich der Ethik und des Handelns des Menschen. Das Absolute zeigt sich indirekt auch hier im Bereich der praktischen Vernunft im Sinne Kants. Es geht um die Miterfahrung des Absoluten im Fehlerhaften des Handelns. Auch der Mangel weist indirekt auf das Positive und Absolute hin, sonst könnte man den Mangel nicht als Mangel erkennen. Im Hintergrund scheint das Gute, sogar das absolut Gute auf.
Die Intuition sagt dem Menschen, dass all das Negative, das Mangelhafte, das Böse nur die eine Seite des Lebens sein kann, und dass all das, was ihm widerfahren ist, nicht in Ordnung ist, und dass es so nicht sein sollte. Angesichts dieser Erfahrung dieses Nicht-sein-Sollenden beginnt die Suche nach dem Darüber-Hinaus. Das Enttäuscht-Werden, das Zerbrechliche, der Schmerz und das Leid kann doch nicht alles gewesen sein. Da muss es doch noch etwas ganz anderes geben. Vielleicht wird später einmal alles anders, im Jenseits, drüben, nach dem Tod. So ist manch religiöser Glaube entstanden. Aber das hilft zunächst nichts für das Leben, diese Vertröstung auf das Jenseits. Damit macht man es sich zu leicht. Dennoch bleibt etwas Richtiges daran. Die Erkenntnis, dass die Welt ungerecht ist weist darauf hin, dass es so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit geben muss (wie immer sie aussieht).
Nicht wenige religiöse Vorstellungen funktionieren so, dass man den Menschen auf die Zeit nach dem Tod vertröstet. Der Schurke und der Verbrecher können doch nicht ungestraft davonkommen, und der „Gute“ muss doch belohnt werden. Das innerweltliche Gutsein lohnt sich ja oft nicht, der Böse und der Rücksichtslose kommen viel besser durchs Leben, der Gute hat oft das Nachsehen. Dieses Ungleichgewicht muss irgendwie ausgeglichen werden, dass es dem Guten dann im Jenseits besser geht und der Böse bestraft wird. Sicher ist daran etwas Richtiges, aber es muss differenziert werden.
Schon im Judentum ging es um Fragen der (ausgleichenden) Gerechtigkeit, und auch im Christentum wird danach gefragt, ob nach dem Tod ein Ausgleich für das irdische Leben stattfindet. Der Blick ins Jenseits ist verständlich, aber er birgt die Gefahr, dass man sich in dieser Welt nicht um die Gerechtigkeit und das Gute kümmert. Der Mensch wird auf das Jenseits vertröstet, aber es geht zunächst um das Leben in dieser Welt. Selbst wenn es kein Leben nach diesem Tod geben sollte, bleibt die Suche des Menschen nach dem Guten bestehen. Ob es das Gute gibt, kann er zunächst nur aus seinen innerweltlichen Erfahrungen heraus beurteilen. Er kann in all dem innerweltlich Schlechten das Gute finden, in all dem Vertrauen-Brechenden auch das Vertrauen-Schenkende.
Es gibt offensichtlich auch dieses Gute und Vertrauen-Schenkende, es gibt Menschen, die es verkörpern, aber es ist oft leise und leicht zu übersehen. Und es gibt dieses Gute indirekt als den Aufschrei gegen das Böse, Schlechte, Verräterische, Vertrauen-Brechende. Innerweltlich wird es allerdings immer endlich bleiben. Es bleibt die Frage, ob es in all dem innerweltlich Guten einen Hinweis gibt auf das Gute an sich – und was dieses Gute an sich sein könnte. Die Suche nach dem Absoluten bleibt.
6. Das Absolute – Was ist das?
Fragen nach dem Absoluten können philosophisch und theologisch beantwortet werden. Die philosophische Frage könnte lauten: Wie finde ich im Relativen des Lebens so etwas wie das Absolute. Geht das überhaupt, dass man im Relativen das Absolute findet? Zwei Zugänge wurden schon beschrieben. Der erste war der, dass der Geist des Menschen immer schon auf das Absolute ausgerichtet ist, da der Mensch das Endliche nur dann als endlich erkennen kann, wenn er schon im Raum des Absoluten steht. Sonst könnte er das Relative nicht als relativ erkennen. Der zweite war der, dass der Mensch angesichts des Schlechten, Bösen und Ungerechten implizit eine Ahnung hat, dass es doch das Gute und Gerechte geben müsste. Und drittens zeigt sich gerade angesichts dieser Ahnung etwas über die Struktur der Welt.
Denn diese Welt ist asymmetrisch gebaut: Die Lüge ist die Abweichung von der Wahrheit, und nicht umgekehrt. Das Unglück ist die Abweichung vom Glück, die Ungerechtigkeit ist die Abweichung von der Gerechtigkeit, und nicht umgekehrt. Ohne dass der Mensch genau wissen muss, was die Wahrheit, was das Glück oder was die Gerechtigkeit ist, nimmt er doch unbewusst am Positiven Maß, um sich zu orientieren. Er bezeichnet das Positive als Wahrheit und den Mangel als Lüge, er ist auf der Suche nach dem Glück und erkennt vor diesem Hintergrund sein Unglück. Er empfindet etwas als ungerecht, und das kann er nur, weil er eine Ahnung von Gerechtigkeit hat. Ohne das implizite Maßnehmen am Positiven kann der Mensch sich in der Welt nicht zurechtfinden. Er kann nicht von Lüge zu Lüge und vom Bösen zum Bösen fortschreiten. Natürlich gibt es das leider in der Welt, aber jeder sieht sofort ein, dass es so nicht sein sollte. Daher ist das Böse als Mangel an Gutem beschrieben worden. (Thomas von Aquin) Man müsste es wohl noch zuspitzen: Das Böse ist das pervertierte Gute, es kommt oft unter dem Anschein des Guten, verdreht die Dinge, zieht seine Kraft aus dem Guten und wendet sich gegen den Menschen. Daher ist es so bedrohlich und zerstörerisch.
Letztlich ist in allem Endlichen und Falschen doch das Richtige und Absolute still und unbemerkt implizit anwesend. Es ist irgendwie da, man kann es aber nicht genau fassen. Man kann sekundär darauf reflektieren, dass es die Gegenwart und Anwesenheit eines unausgesprochenen Horizontes ist, der in all den Bewertungen, die der Mensch vornimmt, gegenwärtig ist. So hat das Absolute auch einen Hang zum Bleibenden. Der Mensch möchte den Moment des größten Glückes festhalten. Er weiß, dass es wieder vergeht, aber er möchte es festhalten, er möchte, dass es bleibt, am liebsten ewig: „Möcht ich zum Augenblicke sagen, verweile doch, du bist so schön“, heißt es bei Goethe; und bei Friedrich Nietzsche: „Alle Lust will Ewigkeit.“
Das Absolute will Ewigkeit, der Mensch findet immer wieder ein Stück Ewigkeit in der Zeit, das Absolute weist hin auf diese Ewigkeit, es ist eine Art Zeitlosigkeit und Raumlosigkeit. Es ist einfach da, still und unbemerkt, implizit in den Dingen und im Relativen. Es ist anwesend und da, scheu und zerbrechlich, geradezu verborgen und hilflos, aber es ist da. Und es ist anders da als ein Baum oder ein Mensch. So ist das Absolute zunächst in den Phänomenen versteckt „da“ und man muss es eigens ans Licht holen, um es zu erkennen. Es ist still und unaufdringlich. Man muss sich ihm ausdrücklich zuwenden.
Neben der Suche nach dem Absoluten in den Dingen hat der Mensch auch immer gesucht nach dem Absoluten hinter dieser Welt, hinter den sichtbaren Dingen oder jenseits des Todes. Es kann die Vorstellung sein, dass in der Welt Kräfte wirken, die der Mensch nicht erklären kann. Es könnten Engel und Dämonen am Werk sein, Schicksalsmächte und Dunkles, vielleicht auch ein guter Gott. Es kann die Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit im Jenseits sein, die Auffassung von der Unsterblichkeit der Seele, jene von der Auferstehung von den Toten oder vom Paradies, es kann die Auffassung von Wiedergeburt oder Reinkarnation sein. All dies sind Vorstellungen, die über das Innerweltliche und den Tod hinausgehen, sind der Blick ins Unendliche und absolute Sein. Offensichtlich liegt im Menschen und in den Dingen dieses Streben nach dem „Darüber hinaus“.
So stellt sich die Frage nach dem Finden des Absoluten in den Dingen und nach dem Finden des Absoluten jenseits von den Dingen. Die Suche