Bahnhof Heiligenstadt, wo mein Vater am Neujahrstag 1948 nächtigte.
Wir ließen es über uns ergehen. Anschließend rückten wir in einer Kneipe ein paar Stühle an den Ofen und tranken dazu, weil es nichts anderes gab, heißen Kinderkaffee. Für die Nacht fanden wir in einem Durchgangslager für Kriegsgefangene eine Bleibe. Hier war gerade ein Transport aus Russland eingetroffen, der in die britische Zone weitergeleitet werden sollte. Ihre Entlassung aus der Gefangenschaft hatten sie offenbar ihrem miserablen Gesundheitszustand zu verdanken. Es waren ausnahmslos bleiche, abgemagerte Gestalten in verschlissenen Uniformen, darunter junge Burschen, nicht älter als wir, mit greisenhaften Gesichtszügen, mit dick angeschwollenen Beinen. Relativ gut genährt und gekleidet, deshalb mit zwiespältigen Gefühlen, stand ich diesem Elend gegenüber. Im Überschwang des Sieges hatten mich die Russen im Mai 1945 nach Hause geschickt und nicht nach Sibirien. Hier hatte ich vor Augen, was mir dadurch erspart geblieben ist.
Am 2. Januar 1948 früh 4 Uhr fuhr der erste Zug ab Heiligenstadt in Richtung Sangerhausen. Dort mussten wir bis zur Weiterfahrt wieder neun Stunden warten. Wartezeit war Zeit für Gespräche. Die Warteräume in den Bahnhöfen waren überfüllt mit Reisenden. Es waren keine Vergnügungsreisenden und viele von ihnen hätten Abenteuerliches erzählen können.
Neben mir saß ein ehemaliger Landser. Er kam direkt aus Italien, war dort aus amerikanischer Gefangenschaft geflohen und wollte nun nach Hause. Ich musste wieder an die Gefangenen denken, die aus Russland kamen, mit denen ich gestern in Heiligenstadt gesprochen hatte. Ein junger Mann borgte sich bei mir 20 Mark, um eine Fahrkarte für die Heimfahrt bezahlen zu können. Ich wusste, dass ich das Geld nie wieder sehen würde. In Halle wieder Warten auf den Anschluss, dann in dreistündiger Fahrt in einem hoffnungslos überfüllten Zug nach Leipzig. Etwa 60 Stunden war ich unterwegs, als ich in den Morgenstunden des 3. Januar 1948 wieder zu Hause war.
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UNTERRICHT NACH FÜNFJÄHRIGER PAUSE
Der Lehrgang hatte bereits im September begonnen. Ich musste also den Unterrichtsstoff von vier Monaten nachholen. Zunächst gab es auch einige Anlaufschwierigkeiten. Nach relativ kurzer Zeit hatte ich aber den Anschluss geschafft. Das war einmal den ausgezeichneten Lehrkräften zu danken, zum anderen erwies sich das Fundament, das vor Jahren auf St. Augustin gelegt wurde, als sehr solide und tragfähig, und drittens war ich ja auch mit dem Vorsatz hier eingestiegen, die Zeit zu nutzen.
Neben den allgemeinen Unterrichtsfächern gab es an der Vorstudienanstalt auch eine Vorlesung „Einführung in die Geschichte und Volkswirtschaft“, durch die ich mit den philosophischen Grundlagen des Marxismus, mit dem Kommunistischen Manifest und der marxistischen Politökonomie bekannt gemacht wurde. Der Dozent, ein gewisser Dr. Sch., hatte die Gabe, diesen Stoff interessant zu gestalten und in einer lockeren Form seinen Zuhörern verständlich zu machen. Ich denke zuweilen heute noch oder wieder daran, nachdem wir in den letzten Jahren Gelegenheit hatten, das Für und Wider der globalen Marktwirtschaft kennen zu lernen.
Bescheinigung über den Beitrag des Autors beim Neuaufbau des Landes
In meiner Klasse strebten mit mir noch etwa 25 weitere, ausnahmslos männliche Personen, das gleiche Ziel an, nach bestandener Prüfung an einer Hochschule zu studieren. Fast alle waren noch Soldat gewesen, und fast alle waren jetzt Mitglied einer Partei, der Partei. Ein paar Scharfmacher waren auch darunter.
Unter dem 2. Juni 1948 findet sich in meinem Kalender eine Notiz: „Man spricht mit mir“. „Man“, das waren jene Scharfmacher, die aus mir unbekannten Gründen irgendetwas gegen mich hatten, wahrscheinlich, weil ich mich nicht entschließen konnte, einer Partei und noch nicht einmal der FDJ beizutreten. Zuvor hatte der als Klassenleiter eingesetzte Dozent, ein gewisser Dr. H., bereits versucht, mich dazu zu bewegen, die Vorstudienanstalt freiwillig zu verlassen. Wahrscheinlich war auch das auf Betreiben der „Scharfmacher“ geschehen. Weil ich aber in allen Fächern gute Leistungen vorweisen konnte, in Mathe hatte ich sogar eine 1, fand sich kein Vorwand, mich von der weiteren Teilnahme am Lehrgang auszuschließen. Als im August die letzten Prüfungen stattfanden, war bereits geklärt, dass ich mit dem Beginn des Wintersemesters 1948/49 ein Studium an der Architektur-Abteilung der Technischen Hochschule Dresden aufnehmen würde. Wegen der nicht befolgten Arbeitsverpflichtung gab es nach meiner Rückkehr aus der britischen Zone keine Schwierigkeiten. Erst später wurde meinem Vater zugetragen, dass mich gewisse Leute ganz gern noch angeschwärzt hätten. Die Namen sind bekannt, aber inzwischen ist das alles längst verjährt.
Die Eintrittskarte zum Abschlussball der Vorstudienanstalt Leipzig in der „Güldenen Aue“ in Leipzig-Sellerhausen.
Nach abgeschlossener Prüfung durften wir uns, sozusagen als Anerkennung, einen FDGB-Ferienplatz aussuchen. Mit meinem Klassenkameraden Klaus Z. hatte ich mich für Rathen in der Sächsischen Schweiz entschieden. Auf der Fahrt dorthin mussten wir in Dresden unser Gepäck von einem Polizeiaufgebot durchsuchen lassen. „Volkskontrolle“ nannte sich das, und nach Schieberware suchten sie. Ein Brot, das ich mir als Zusatzverpflegung für den Urlaub eingepackt hatte, durfte ich behalten. In Rathen kam ich mit einem jungen Mann ins Gespräch. Jahrgang 1926, wie ich. 1946 war er von den Russen verhaftet worden. Als angeblicher Angehöriger des „Werwolf“ hat er zwei Jahre in Buchenwald verbüßt, ohne Verhandlung, ohne Urteil.
„Viele haben sich das Leben genommen, vor ein paar Wochen wurde ich entlassen.“
Die Zeit bis zum Beginn des ersten Semesters in Dresden wurde genutzt, um die immer noch schmale Ernährungsgrundlage etwas aufzubessern. Eine Notiz aus jenen Tagen besagt:
„Wieder von Rathen zurück, beginnt sofort das Kartoffelstoppeln. Zu Hunderten und Tausenden ziehen die Menschen durch die Fluren und überfallen die Felder wie Heuschreckenschwärme. Die Stimmung ist äußerst gereizt.“
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VERBOTENE ZEITSCHRIFTEN
In diesen Tagen erregten wir, unsere Familie, aus uns unverständlichen Gründen erstmalig die Aufmerksamkeit der Volkspolizei. Am 2. Oktober 1948 erschien ein Volkspolizist in der Wohnung meiner Eltern, in der Hand eine Liste, worauf die Abonnenten von Zeitschriften vermerkt waren, die in den westlichen Besatzungszonen erschienen. Das betraf meine Person mit der Zeitschrift „Die neue Stadt“, einer Fachzeitschrift für Städtebau und meinen Vater mit dem „Polygraf“, der Titel sagt es schon, einer Zeitschrift für das grafische Gewerbe. Beide kamen aus Frankfurt am Main. Am liebsten wollte der junge Mann sämtliche uns vorliegenden Nummern dieser Zeitschriften gleich mitnehmen. Nach Protesten unsererseits beließ er es bei aufklärenden Worten, dass es verboten sei, Zeitschriften westlichen Ursprungs zu abonnieren,