Die Lebensmittelkarten wurden erst Ende der 1950er Jahre für immer abgeschafft. Aber was danach folgte, die Mauer, war noch einschneidender für die Menschen.
Dresden, Juni 2018
DIE VORSTUDIENANSTALT
KREISKOMMISSION LEIPZIG
6. Januar 1948, Rückkehr auf die Schulbank nach fünfjähriger Unterbrechung. Bereits drei Jahre zuvor, Ostern 1945, sollte ich meine Schulzeit an der Fürstenschule St. Augustin zu Grimma mit dem Abitur abschließen. Aber die Verhältnisse ließen das nicht zu im Frühjahr 1945. Immerhin hatte ich die letzten Wochen des Krieges unverletzt überlebt. Dass uns die Russen nach der bedingungslosen Kapitulation nach Hause geschickt hatten und nicht nach Sibirien, grenzte fast an ein Wunder, hat mir Jahre der Gefangenschaft erspart. Dass ich nun hier, an einer „Vorstudienanstalt“, mit einer Verspätung von vier Monaten noch antreten durfte, um die Hochschulreife zu erwerben, war ein weiteres Wunder.
Nach meiner Entlassung aus der Wehrmacht, welche laut amerikanischem „Certificate of Discharge“ am 11. Juni 1945 erfolgte, hatte ich ausreichend Zeit und Muse, darüber nachzudenken, wie es nun mit mir weitergehen sollte. Irgendwie musste ich ja versuchen, meinen Lebensunterhalt durch eigener Hände Arbeit zu verdienen. Die Entscheidung, Maurer zu werden, war kein Zufall. Ein Bauberuf war schon früher einmal in die engere Wahl gezogen worden. Den letzten Anstoß lieferten aber die deutschen Trümmerfelder, die der Krieg hinterlassen hatte, eine Garantie dafür, dass zu meinen Lebzeiten die Arbeit nicht ausgehen würde.
Ich hatte zunächst nun das Nahziel, die Berufsausbildung als Maurer abzuschließen. Am 20. August 1945 begann ich meine Arbeit als Maurerlehrling in der Firma „Baumeister Friedrich Sebastian“ in Groitzsch. Den Lehrvertrag musste mein Vater unterschreiben, weil ich vor dem Gesetz nicht als mündig galt. Kein Mensch wusste, ob und wann die Bauschulen ihren Lehrbetrieb wieder aufnehmen würden.
Arbeit als Maurerlehrling u. a. beim Aufbau des Bahnhofs in Groitzsch bei Leipzig
Auch die Zusage, dass wir eines Tages ohne Prüfungen und sonstige Formalitäten nach der Entlassung aus der Wehrmacht einen „Vorsemestervermerk“ erhalten würden, war mit dem Ende des Dritten Reiches hinfällig geworden.
Wider Erwarten wurde bereits im Oktober 1945 an der Fürstenschule zu Grimma mit der Bildung einer Abiturientenklasse der Unterrichtsbetrieb wieder aufgenommen. Ich hatte auch eine entsprechende Einladung erhalten, mich aber dann doch entschieden, die begonnene Berufsausbildung nicht abzubrechen, auch weil ich das damals als Grundlage für ein Fach- oder Hochschulstudium betrachtete. Einige meiner früheren Klassenkameraden, mein Freund Günther F. gehörte dazu, hatten diese Möglichkeit genutzt, im Mai 1946 das Abitur abgelegt und bereits im Herbst 1946 das Studium an einer Hochschule aufgenommen. Ich konnte meine Berufsausbildung als Maurer erst im Frühjahr 1947 mit der Gesellenprüfung abschließen. Etwa zur gleichen Zeit wurde in der Presse durch eine „Kreiskommission Leipzig zur Förderung des Arbeiterstudiums und minderbemittelter Studenten und Schüler“ für die Teilnahme an einem Vorbereitungslehrgang zum Hochschulstudium geworben. Ohne Zweifel konnte ich als hochgradig minderbemittelt gelten, was meine finanziellen Verhältnisse betraf und sowohl meiner Herkunft als auch meiner beruflichen Tätigkeit nach, betrachtete ich mich als Arbeiter, als was sonst. Deshalb glaubte ich, die erforderlichen Voraussetzungen zur Teilnahme an diesem Vorbereitungslehrgang zu erfüllen. Ich hatte aber nicht bedacht, dass es noch weitere Auswahlkriterien geben könnte.
Mit einer Arbeitsverpflichtung, „bis auf weiteres als Hilfsarbeiter beim Arbeitsamt Aue“, die mir in den Abendstunden des 19. Juli 1947, einem Sonnabend, die Volkspolizei ins Haus brachte, wurde diese Bewerbung praktisch gegenstandslos. „Bis auf weiteres“ konnte im ungünstigsten Falle auch lebenslänglich sein und weil „lebenslänglich als Hilfsarbeiter“ keine besonders attraktive Perspektive für meine Zukunft verhieß, machte ich mich, statt nach Aue, in westlicher Richtung auf den Weg. Um mich dieser unbefristeten Arbeitsverpflichtung in den Uranbergbau zu entziehen, hatte ich im Juli 1947, nicht ganz freiwillig, die sowjetische Besatzungszone verlassen und war in die britische Besatzungszone über gewechselt. Dort erreichte mich, von meinen Eltern nachgesandt, ein Schreiben mit folgender Begründung:
Schreiben der Kreiskommission Leipzig vom 1. September 1947
„Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie für den III. Vorbereitungslehrgang zum Hochschulstudium Herbst 1947 nicht zugelassen werden konnten.“
Grund:
„Sie scheinen sich am Neuaufbau nicht aktiv zu beteiligen, da Sie weder der FdJ noch einer der antifaschistischen Parteien angehören.“
Der „Vorbereitungslehrgang zum Hochschulstudium“ war damit für mich kein Thema mehr, was mir schließlich auch durch diese Kreiskommission schriftlich bestätigt wurde. Was mich veranlasste, noch einmal an diese Kreiskommission zu schreiben, war die Begründung der Ablehnung. Ich gehörte ja tatsächlich keiner Partei an, aber was meine Beteiligung am Neuaufbau betraf, da meinte ich, meinen Beitrag unter schwierigsten Bedingungen geleistet zu haben. Offenbar spielte das aber nur eine untergeordnete Rolle und wog das nicht vorhandene Parteibuch nicht auf. Ich verfasste mein Schreiben, kein Gnadengesuch, mit kritischen Betrachtungen zu den Gründen für die Ablehnung, verbunden mit der Bitte um Stellungnahme. Eine Stellungnahme gab und gibt es gewöhnlich in solchen Fällen nicht. Stattdessen wurde ich am 15.11.1947 ganz überraschend durch ein Telegramm informiert, ich solle am 17.11.1947 in Leipzig zur Prüfung erscheinen. Weil ich zu dieser Zeit infolge eines Unfalls im Bett lag und nicht laufen konnte, musste ich absagen, was ich als endgültigen Schlusspunkt betrachtete. Nun dieses Telegramm, das am Heiligen Abend in Ringelstein1, meinem damaligen Aufenthaltsort, eintraf. Sein Inhalt:
„Komme nach Hause, da zugelassen zum Lehrgang der Vorstudienanstalt. Unterrichtsbeginn am 6. Januar. Dein Vater Paul Hüfner“2
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RÜCKKEHR IN DIE SOWJETISCHE BESATZUNGSZONE
Diese Weihnachtsüberraschung bescherte mir eine unruhige Nacht, Zweifel kamen auf. Aber im Verlauf der nächsten Tage rang ich mich durch, in die SBZ zurückzukehren. Immerhin war damit das Risiko verbunden, dass die angedrohten Strafen wegen Nichtbefolgens der Arbeitsverpflichtung wirksam werden könnten. Am Silvestertag verließ ich mein Domizil in Ringelstein, um in der Neujahrsnacht zwischen Eichenberg und Arenshausen im Eichsfeld über die Grenze zu gehen. Zweifellos war das ein Zeitpunkt, der das Unternehmen außerordentlich begünstigte. Das neue Jahr wurde eingeläutet, als der Zug in Hedemünden an der Werra einlief, und kurz nach Mitternacht stand ich, zunächst ziemlich einsam, in der Schalterhalle des Bahnhofs Eichenberg, mit den besten Vorsätzen für das neue Jahr und in der Hoffnung auf einen glücklichen Grenzübergang. Offenbar war nicht schwer zu erkennen, welches Vorhaben mich zu so außergewöhnlicher Stunde an diesen Ort verschlagen hatte, denn es dauerte nicht lange, da hatten sich ein paar Schicksalsgenossen zusammengefunden, die wie ich, die Gunst der Neujahrsnacht für ihre Zwecke nutzen wollten.
Es war eine ruhige mondhelle Nacht, der Boden war hart gefroren, stellenweise lag noch etwas Schnee, und wir schienen tatsächlich weit und breit die einzigen Menschen zu sein. Bis Hohengandern, bereits in der Ostzone, marschierten wir an einem Bahndamm entlang, der keine Gleise mehr trug, unbehelligt von Grenzwächtern beider Seiten. Von Arenshausen, der ersten Bahnstation jenseits der Grenze, hofften wir, im Laufe des Tages mit der Eisenbahn weiterzukommen. Aber der Fahrplan