Ein anderes rief: „Wer bist du?“
Ohne eine Antwort abzuwarten, wollte ein weiteres wissen: „Wie kommst du hierher?“
Danach riefen alle Glühwürmchen ihre Fragen und Vermutungen durcheinander. Sie hatten schon manchen Fremden tollkühn das nasse Gras, das spärlich am Rande des Moores wuchs, durchschreiten sehen. Sie alle hatten den sagenhaften Schatz der Düsteren Königin erobern wollen, von dem man sich erzählte. Aus Habgier hatten sie die undurchschaubaren Gefahren im Reiche der Königin herausgefordert und waren nie wieder in ihre Heimat zurückgekehrt.
Der Junge fiel erschöpft auf das Gras nieder. Behutsam bettete er den Stab neben sich. „Ich bin Tahomo, der Prinz von Tandonay, und suche nach Salmidon, dem Weisen. Wahrscheinlich bin ich vom Weg abgekommen“, erklärte der Jüngling den Glühwürmchen. „Ich danke euch! Ohne eure Hilfe wäre ich wohl verloren!“ Und dann erzählte er ihnen voller Vertrauen seine traurige Geschichte.
Inzwischen war es vollends dunkel geworden. Über dem schaurigen Moor schwebte ein schillernd flackerndes Licht. Es war einem Wetterleuchten ähnlich. Leise Stimmen flüsterten hier und dort und verstummten wieder – auch hörte man vereinzelt sehnsuchtsvolle Klagelaute. Dann herrschte wieder bleierne Stille. Nur, wer genau hinhörte, nahm jetzt ein leises Singen wahr.
Das zuckende Wetterleuchten und der Gesang wurden stärker. Die Klänge schwollen an. Sie waren von magischer Anziehungskraft. Tahomo schaute sich suchend um. Eine starke Sehnsucht überfiel ihn und begann alle Sinne des jungen Prinzen zu verwirren. Als ob er die Warnung seiner neuen Freunde nicht gehört hätte, erhob er sich plötzlich wie im Wahn. Schwankend schritt er wieder auf das gefährliche schwarze Moor zu; er konnte nicht anders, so sehr lockte ihn der betörende Klang dieser Stimmen. Die Glühwürmchen jammerten und warnten eindringlich, doch der Junge hörte sie nicht.
Da flammte das Licht über dem Moor wie ein Strahlenkranz auf. Schemenhaft formte sich aus ihm die unheimliche Gestalt der undurchschaubaren Düsteren Königin. Tahomo blieb stehen. Er war von der Anziehungskraft dieser schwebenden, zarten und elfengleich anmutenden Frauengestalt fasziniert. Ein dunkelblaues Schleierkleid umfloss ihren Körper. Der Saum wehte in Fetzen über das unruhige Moor. Wassertröpfchen funkelten wie Sterne auf dem tanzenden Gewand, und wenn sie herunterfielen, so stürzten sie mit einem silbernen Klang, „ping“, wie Sternschnuppen so hell in das schwarze Moor und verschwanden auf immer. Auf dem Haupt der Düsteren Königin strahlte ein Diadem in kalten Regenbogenfarben. Die langen Haare ringelten sich wie schwarze Schlangen in lebendigem Auf und Ab um ihr bleiches Gesicht.
Nun begannen sich ihre Arme in einem weiten Halbkreis zu bewegen, so als winkte sie den Jungen zu sich. Plötzlich wand sich auch ihr Körper in schlängelnden Bewegungen. Ihr ganzer Leib nahm mehr und mehr die Gestalt einer riesigen Schlange an.
Tahomo sah nur den eigentümlich schmerzlichen Ausdruck ihres lieblichen Gesichts. Ihm schien, als kenne er es. Wo hatte er diese Augen schon einmal gesehen? Sie waren ihm so vertraut. Mit lockendem Gesang kam sie näher, immer näher. Gerade wollte sie den gebannten Jüngling umschlingen; doch in seinem Inneren spürte Tahomo plötzlich glühend die Gefahr: Ich muss wach werden, jagten die Gedanken durch seinen Kopf. Hastig atmete er tief ein, als ob er sich von Fesseln befreien wollte. Da löste sich ein lauter Schrei aus seiner Kehle: „Salmidooooon!“
Dann geschah etwas Unglaubliches: Der geheimnisvolle Zauberast erhob sich langsam aus dem Gras. Sirrend rotierte er um sich selbst und flog dem Prinzen hinterher. Sein schnelles Kreiseln nahm zu. Bald konnte man keine klaren Umrisse mehr erkennen. Er wuchs, wurde größer und größer. Dann zerfloss er breit und verwandelte sich zu einem leuchtenden Schiffskörper.
Der völlig verwirrte Prinz stand wie gelähmt. Er sah staunend, wie der vordere Teil des Schiffes in die Höhe schwebte, sodass er in das Innere schauen konnte. Dort stand reglos eine hohe Gestalt. Sie schien aus mehr oder minder dichten, dunkelgrauen Rauchschwaden zu bestehen und war nur schemenhaft zu erkennen. Mit heiserem Flüstern lockte sie: „Komm zu miiir!“ Die durchsichtige Gestalt öffnete weit ihre Arme und wie durch einen starken Sog zog es den Jungen in das große, strahlende Boot hinein. Danach zerfloss dieses Wesen und löste sich langsam in Luft auf. Hinter Tahomo schloss sich der Bug.
Das Schiff hob ab und flog mit dem Prinzen himmelwärts, weit weg von dem blubbernden und wuchernden Schleim des Moores, auf dem sich jetzt eine große, schillernde Schlange wand. Da bäumte sie sich nochmals auf, setzte zu einem Sprung an, um das strahlende Luftschiff vielleicht noch zu erhaschen. Doch schwebte dies bereits weit über den lichten Wolken der wärmenden Sonne entgegen. Die silberne Schlange aber stieß einen verwunderlich klagenden Seufzer aus und sank in sich zusammen.
„Er sucht Salmidon, den Herrscher des Magischen Reiches“, riefen einige Glühwürmchen dem Gefährt nach.
Andere schrien: „Hilf ihm und behüte seinen Weg.“
Damit entschwand Tahomo den Blicken seiner kleinen Freunde.
„Mehr wird heute und hier nicht verraten“, ende ich mein erstes Kapitel.
Im Kinderzimmer liegen meine Enkelsöhne auf dem Lümmelsack in meinen Armen, als ich die Geschichte vorlese. Sie haben sich angekuschelt und sind ganz still. Nur manchmal wackelt mein Manuskript, wenn ein Beinchen sich strecken muss.
„Mehr von den Abenteuern Prinz Tahomos erfahrt ihr das nächste Mal, wenn ich wieder zu euch komme!“, schließe ich die Geschichte ab.
„Noch mal lesen, Omama!“ Mika schaut lächelnd in meine Augen. Beide sind sich einig und ich bin sehr zufrieden. Offensichtlich hat ihnen mein Märchen bis jetzt gefallen.
2. Kapitel
Warum kann ich nicht einschlafen? Ich muss unbedingt schlafen … Morgen will ich sehr früh zu meinen Enkeln fahren, und das ist ein weiter Weg …
Es knackt und ich vernehme ein fremdes, schleifendes Geräusch, was ich mir nicht erklären kann. Ist Gerard aufgestanden? Nein, er schläft ganz tief neben mir … Was ist da … Ein Einbrecher? Was bedeutet das alles? Was geht hier vor? Und dort … Das sind doch funkelnde Augen … Sie starren mich aus der Dunkelheit an. Da ist doch etwas! Mein Herz pocht schneller. Ich sehe, wie sich auch etwas bewegt … Genau kann ich es nicht erkennen … Ist das nicht wie ein Tanzen von Schlangen um ein Gesicht?
Ein Verdacht schießt mir wie ein Blitz durch den Kopf. Schwarze Schlangen, die ein Gesicht umtanzen, stammen doch aus meiner Geschichte für meine Enkelsöhne! Nein … Nein, das kann nicht wahr sein! Es kann einfach nicht sein! Die Düstere Königin habe ich mir doch nur ausgedacht …
Wilde Angst flammt in mir auf. Leise, ganz leise, zugleich aber immer widerhallend, höre ich eine Stimme. Sie kommt genau aus der Richtung, aus der mich die blinkenden Augen ansehen: „Ich brauche deine Hilfe!“ Ein Raunen folgt einem Echo gleich. „Nur du und deine Enkelsöhne …söhne … wurden bestimmt, mich zu erlösen …lösen! Helft mir, helft mir doch bitte … Nur du und deine Enkelsöhne …söhne … Helft mir doch … helft mir … bitte!“
Gerard berührt mich am Arm. „Warum bist du so unruhig? Ich bin davon aufgewacht.“
Leise frage ich ihn: „Hast du das auch gehört?“, und suche die funkelnden Augen, doch sie sind nicht mehr da.
„Da ist nichts“, sagt Gerard. „Was soll denn da gewesen sein? Soll ich das Licht einschalten?“
„Nein!“
Dieses Etwas, wenn es noch hier sein sollte … Ich will es nicht verjagen. Diese Stimme, ihre große Trauer berührt mich. Oder war es ein Traum und ich bilde mir alles nur ein? Nein, das kann eigentlich nicht sein, ich habe ja noch nicht geschlafen. Komisch … Ich drehe mich auf meine gewohnte Einschlafseite.