Das gibt’s doch nicht, denke ich, diese Kerle machen sich noch nicht einmal die Mühe, nachzudenken. Ich weiß genau, dass die beiden mit ihren sechs und sieben Jahren momentan täglich Ausschnitte aus der Oper „Die Zauberflöte“ von Mozart zu hören wünschen. Den ganzen Tag sind sie nicht so brav wie am Abend vor dem Schlafengehen. Dann bedrängen sie nämlich ihren Vater, ihnen Videos von einzelnen Szenen dieser Märchenoper vorzuspielen. Genau daher kennen sie den Prinzen und die machtgierige Königin der Nacht, natürlich auch die Schlange. Nur Papageno fehlt noch, der lustige Vogelfänger mit seinem Zauberglockenspiel. Im Moment sind sie es, die meine Enkel begeistern.
Ich musste den beiden Opernfans schon Kostüme nähen. Philipp bekam einen schwarzen Umhang mit silbernen Sternen. Am meisten gefiel ihm der zarte, glitzernde Schleier. Den steckte ich in seinen blonden Haaren fest. So schwebte er mit träumerischen Augen als Königin der Nacht durch die Wohnung, während Mika natürlich der waghalsige Prinz sein wollte, mit allem Drum und Dran.
In dieser Geschichte kommt später noch ein Weiser vor. Und genau den wünschen sich jetzt die beiden in meinem neuen Märchen. Also … alles schon da gewesen!
Ihr macht’s euch leicht, geht es mir durch den Kopf … Und nun soll ich aus dieser starken, fantasievollen Geschichte, die jedermann kennt, eine ganz andere kreieren? Wie soll ich denn das hinkriegen?
‚Aber wenn sie sich doch darüber freuen‘, meldet sich eine Stimme in mir. Oh, ich kenne sie! Und schon gebe ich nach – wenn auch zum Schein widerwillig. Na ja, man kann es ja mal versuchen …
Es ist wie immer, meine Enkel haben gewonnen!
Beim nächsten Besuch übergebe ich ihnen bereits das erste Kapitel. „Hier, lest!“, sage ich zu ihnen. „Und denkt dabei an mich, wenn ich wieder weit weg bin!“
Zögernd nimmt Philipp das Manuskript.
Da fasst Mika meine Hand und zieht mich in Richtung seines Zimmers. „Omama, wir machen’s uns gemütlich!“ Dann lächelt er mich an. „Bitte … vorlesen!“
Gemütlich, das gefällt mir! Ich folge ihm sofort. Wir kuscheln uns unter das Hochbett, wo viele bunte Kissen liegen und auch der Lümmelsack.
„Also …“, beginne ich.
1. Kapitel
Auf der unendlich weiten Wiese wurde es bereits dunkel. Trostlos und öde ragten hier und da abgestorbene Zweige aus gelbem, fauligem Gras. Hier blühten keine Blumen und hier sang auch kein Vogel. Bedrückend war die Stille, die noch nicht einmal vom heiseren Schrei irgendeiner dort lebenden Krähe durchbrochen wurde.
Aus dem fernen Wald flog gerade ein Schwarm Glühwürmchen herbei. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, mit ihren Laternen verirrte Wanderer zu warnen. Viel Unglück war hier schon geschehen. Und wieder erblickten sie einen jungen Mann, der durch die unheimliche Wiese stapfte. Mit jedem seiner Schritte sank er tiefer in den nassen, morastigen Boden. Hoch schwang er beide Arme, um überhaupt vorwärtszukommen, doch es war und blieb mühsam. Seine Kraft erlahmte mehr und mehr.
Das sahen die Glühwürmchen. Diesmal aber schien einiges anders zu sein. Dank ihrer sensiblen Gaben spürten sie sofort: In den Gesichtszügen dieses jungen Mannes zeigte sich nicht der Ausdruck von Habgier, den sie bei vielen anderen Abenteurern gesehen hatten. Er schien kein gewöhnlicher Mensch zu sein. Hoffnung erwachte in den Glühwürmchen: War er der Auserwählte, auf den sie so lange schon gewartet hatten?
„Junger Mann“, rief die älteste der kleinen Lichtgestalten, „kehre um … Sollen wir dir leuchten?“
Ein anderes Glühwürmchen warnte: „Du gehst hier einen sehr gefährlichen Weg, denn hier beginnt das dunkle Moor.“
Die piepsende Stimme des jüngsten schrie in großer Aufregung: „Es ist das unermesslich große Reich der undurchschaubaren Düsteren Königin.“
Und dann riefen alle durcheinander: „Dort droht dir Gefahr … Hör auf uns, Jüngling … Bleib sofort stehen … Kehr um!“
Da blieb der Junge stehen und sah sich verwundert um, woher wohl die zarten Stimmen kamen. Aber alles, was er in der beginnenden Finsternis noch erkennen konnte, war ödes Land. Kein blühender Strauch, kein grüner Baum. Auch der Himmel war in seiner Weite fahl und wie Asche so grau.
‚Wer war das?‘, wunderte er sich und wollte mühsam das vordere Bein zurückziehen, um etwas auszuruhen und sich umzusehen. Aber sogleich umfloss das Moor schmatzend und mit zähem Schleim den Stiefel, um den Jungen festzuhalten.
Wie konnte er denn wissen, dass ein Zauberspruch der wabernden, blubbernden Masse befohlen hatte, jeden Fremden einzuschließen. Niemand sollte das dunkle Reich betreten, ohne je wieder hinauszukönnen! Unbarmherzig hüllte ihn dann das Moor mit seinem Nebel ein, der den Eindringling trunken machte und ihn so verwirrte, dass er den Weg zurück nicht mehr finden konnte. Später zog die dunkle, zähe Masse an seinen Beinen. Sie blubberte Stolpersteine vor seine Füße, sodass der Wanderer stürzen musste und elend im Moor versank. Dann war er für immer gefangen.
„Wer ruft? Sind hier Menschen? Meldet euch! Ich habe mich verirrt, aber in der Ferne sehe ich Lichter – das sind bestimmt Häuser … Kommt ihr von dort?“ Die Stimme des jungen Mannes wurde immer lauter und zum Schluss schrie er die letzten Worte in seiner Not und Angst in das Dunkel.
Im Nu flogen die Glühwürmchen zu dem Jungen: „Nicht! Geh nicht weiter! Das sind Irrlichter, unsere armen Brüder. Sie werden im Moor gefangen gehalten“, wisperte der ganze Schwarm aufgeregt und beschwörend durcheinander. Dann bildeten sie mit ihren leuchtenden Körpern einen Kreis um ein Etwas, das der Jüngling noch nicht genau erkennen konnte.
Die kleinen Lichtgestalten begannen auf einen schon halb verwitterten, großen Ast hinzudeuten. Man konnte sich jetzt noch vorstellen, dass er vor vielen hundert Jahren mit seinen grünen Blättern einst einen stolzen Baum geschmückt hatte. Lange war dieser Riese schon gefallen und von der schwarzen Masse des Moores geschluckt worden. Nur dieser kahle Ast ragte noch bizarr, aber stark und eigensinnig in die Höhe.
Aufgeregt hielt der ganze Schwarm in seinem unruhigen Flug inne und wartete. Wenn dieser junge Mann der Auserwählte sein sollte, so musste jetzt etwas geschehen.
Tatsächlich! In dem Augenblick, als der Jüngling im Lichte der Glühwürmchen den rettenden Ast erblickte und schnell ergriff, erwachte auf geheimnisvolle, wundersame Weise das tote Holz plötzlich zu neuem Leben. Der junge Fremde fühlte in seiner Hand das Erstarken des modrig-schwammig gewordenen Holzes. Es formte sich zu schlanker Höhe und zusehends glättete sich auch seine Außenhaut. Sie begann im matten Abendlicht silbern zu strahlen. Zum Erstaunen aller bildete sich am oberen Ende des Stabes langsam eine gläserne Kugel. Alle schauten fasziniert zu, wie sie plötzlich in wechselnden Farben zu leuchten anfing.
In diesem Moment schrien die Glühwürmchen auf. Dann hörte man wieder die aufgeregte Stimme des kleinsten: „Sieh doch, Omi, er hat den toten Ast zum Leben erweckt!“
Seine Großmutter flog, wie immer, dicht neben ihm. Jetzt nickte sie ihm zu und rief glücklich: „Endlich! Er ist gekommen … Ja, er muss es sein!“ Sie wandte sich auch an die anderen: „Wir haben so lange gewartet … Jetzt ist er da – der Retter der Märchenwelt!“
Daraufhin schrien und lachten sie alle durcheinander. Das war ein Sirren von vielen zarten Stimmchen.
Indessen klammerte sich der Jüngling an seinen festen Halt und ließ nicht nach, ihn zu umschlingen. Zu groß war seine Angst, vom Moor verschluckt zu werden.
Plötzlich begann sich der Stock zu erheben und schließlich zu schweben. Und so zog die Kraft dieses mächtigen Stabes den jungen Mann aus dem gefährlich glucksenden Moor heraus.
Spätestens jetzt musste