Zu seiner Überraschung nickte sie.
»Milch und Zucker?«
Nun schüttelte sie den Kopf ein wenig.
Rattner öffnete die Tür. »Bringt mir mal bitte zwei Kaffee, einen ohne alles, einen mit allem. Und gebt mir die Schlüssel für die Handschellen.«
Letztere warf ihm die Kollegin mit den Worten zu: »Das ist gegen die Vorschriften. Den Kaffee bring ich gleich.«
Dankbar nickte Rattner. Im Zimmer trat er seitlich an die Frau heran und nahm ihr die Handfesseln ab. Dann setzte sich der Hauptkommissar ihr genau gegenüber hin.
»Sprechen Sie Deutsch?«, fragte er nach einer Minute des Schweigens.
»Eine bisschen«, antwortete sie. »Nicht sehr gut, leider.« Die Stimme der jungen Frau klang angenehm und keineswegs unsicher.
Rattner kratzte sich unablässig am Kinn. »So, so. Ein bisschen. Nachher kommt eine vereidigte Übersetzerin. Sie wird uns unterstützen. Ist das okay?«
Erneut ein kurzes Nicken.
Der Kommissar sah den Schatten hinter dem Milchglas der Tür, ging hin, öffnete sie und nahm die beiden Kaffeebecher entgegen. Den dunklen stellte er der Frau vor die Nase. »Bitte.«
Ein Nicken. Sie blickte wie erstarrt den Kaffee an.
»Können wir reden?«, fragte Rattner.
Noch einmal bewegte sich der Kopf, dann erst musterte sie diesen uralten, deutschen Beamten ganz genau.
Der hatte sich wieder hingesetzt. Er sprach sehr langsam, damit sie seine Worte besser übersetzen konnte. »Weshalb haben Sie sich gestellt?«
Sie antwortete stets erst nach einer kurzen Denkpause, redete nach den Pausen jedoch sehr schnell. »Ich nicht will jagen mir lassen.«
»Wer jagt Sie denn?«
»So ich nicht zurückgehe, deutsche Polizei mich jagt. Dann serbische Polizei mich jagt. Und wer weiß noch.«
Es dauerte einen Moment, bis Rattner glaubte verstanden zu haben, was sie mit ihrer Antwort meinte.
»Sie müssen nicht auf meine nächste Frage antworten. Haben Sie Nebojša Suker mehrmals in den Hals gestochen, sodass er an seinen Verletzungen sterben musste?«
Das obligatorische Nicken folgte.
Rattner pulte zunächst im Ohr und trank dann von seinem Kaffee, der lediglich lauwarm war. »Und …, warum haben Sie das getan?«
»Vielleicht Sie hätten das auch gemacht, wenn Sie stecken müssen in meiner … Wie sagt man Deutsch zu prošlost?« Ihre warmen, braunen Augen schauten Rattner fragend an.
»Haut?«
»Ne.« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Rattner, den Hauch eines Lächelns gesehen zu haben. »Was ist vorbei. Das Wort ich meinen.«
»Vergangenheit?«, riet der Kommissar.
Ein Nicken. Dann plötzlich: »Nebojša sollte totmachen mich. Ich nur war sehr, sehr schnell. Ich lang und viel lernen, was ich machen. Ich genau wissen, was Stokan Nebojša erledigen lassen!«
»Stokan? Wer bitte ist Stokan?«, fragte Rattner sofort.
Ihre Augen blitzten plötzlich auf, ihre Stimme war geladen. »Ich überall suchen nach Stokan und Todor. Osamnaest godina! Verstehen? Achtzehn Jahre ich suchen. Ja! Totmachen ich Stokan und den Todor – mit große Freude in Herzen ich das tun. Osamnaest dugih godina! Stokan merken, ich gefunden haben ihn. Stokan eine erbärmliche Feigling, aber schicken Nebojša Suker, mich machen sollen sehr kaputt.«
Es klopfte an der Tür. Rattner erhob sich, während er ihre letzten Worte zu verdauen versuchte, und öffnete die Tür. Eine ältere Dame erschien, schmuck, füllig und übertrieben geschminkt. Die Übersetzerin.
»Dobro jutro! Guten Morgen. Ich soll bei der Übersetzung behilflich sein.« Wegen ihrer kräftigen Stimme wirkte ihr Auftritt wie ein Überfall.
Bevor Rattner auch nur die Hand geben konnte, hatte Kristina Krajic bereits etwas gezischt und die Übersetzerin hatte darauf geantwortet.
Die vermeintliche Mörderin erhob sich ruckartig. »Bitte nicht diese Frau!« Sie sprach hasserfüllt und betonte jede Silbe: »Ona je srpski žena!«
Während Rattner über ›srpski‹ nachdachte und feststellte, dass dies offensichtlich etwas mit Serbien zu tun haben könnte, ging die Dolmetscherin zurück zur Tür.
»Entschuldigen Sie. Das habe ich nicht nötig. Bitte lassen Sie mich raus. Manchen Leuten ist nicht zu helfen.«
»Aber vierzehn Uhr brauche ich Sie ganz bestimmt.« Rattner ließ die Frau gehen, entschuldigte sich förmlich und gab seinen Kollegen im technischen Raum das Zeichen, von nun an das Gespräch mitzuschneiden.
Nachdem die Frau verschwunden und wieder Ruhe eingekehrt war, setzte sich Rattner auf seinen Stuhl, schob den kalten Kaffee weit weg und schaute Kristina Krajic an.
»Ich verstehe Sie nicht. Ich bin hier, um die Wahrheit herauszufinden. Und diese Frau hätte uns dabei helfen können, damit ich aus Ihren reichlich verwirrenden Worten klug werde. Warum musste sie gehen?«
»Sie eine serbische Frau. Ich nicht wissen kann, ob sie oder die Familie von Frau kooperiert mit Stokan- oder mit Nebojša-Familie.«
»Sind Sie nicht auch aus Serbien?«
»Ne!« Blitze schossen aus den Augen der Frau. »Ich sein Kroatin.«
»Was haben diese Leute Ihnen angetan, dass Ihr Hass so gewaltig ist?«
Sie sagte kein Wort und nickte auch nicht.
»Hat es mit dem Krieg in Ihrer Heimat zu tun?« Rattners Stimme hob sich ein wenig. »Sie müssen mir schon helfen, wenn ich Ihnen helfen soll.«
»Achtzehn Jahre …« Kristina Krajic beugte sich ein wenig nach vorn. »Ja, es kommen wegen Krieg«, flüsterte sie. »Aber Krieg machen … ich nicht wissen die deutsche Wort … od tih barbara!«
»Barbara? Meinen Sie, Krieg macht Barbaren?«
Sie nickte. »Sie sehr, sehr wenig kennen meine Krieg?«
Rattner zog nun den Kaffeebecher wieder zu sich heran und trank ihn aus. »Ich erinnere mich an die Nachrichten von damals. Mehr weiß ich leider nicht.«
»Sie können hören und sie dürfen lernen. Ich war eine ganz kleine Kind mit acht Jahre, als das stattfand, was Krieg ist. Serben eroberten mein Heimat in Kroatien. Dann mein Papa große Angst, flüchtet mit ganze Familie, mit Mama und großer Bruder, in petsto Kilometara, ist fünfhundert, weit, weit weg. Durch ganze bosnische Land. Familie von Mama dort. Sagt, alles okay. Ja. Sagt, alles okay dort und wunderbar. Ist ja Zone von United Nations dort, auch wenn nicht weit bis Serbien.« Sie lachte höhnisch. »Oh ja, alles okay dort! Meine Onkel ist Name Kemal Kabilowić, seine schön Haus und Feld in Likari, ganz in Südost von Bosnien, fast Serbien. Ja, ja. Erst alles okay und dann serbische Armee kommt. Viel schießen mit großen Waffen und kleinen, so peng, peng, immer wieder, wo nur sind Zivilisten. Plötzlich aber alle sagen United Nations macht nur noch Schutz für alle in Potočari. Und jetzt alle gehen nach Potočari, wieder alles gut dort, da ist die Blauhelm, machen Schutz für alle. Ist eine Lager von Holland. Ich genau wissen, ist 11. Juli 1995, alle Familie gehen von Hof von Onkel weg. Ist heiß. Und brennen überall serbisch Soldaten Feld und Haus an. Oder schießen mit Bomben. Verstehen?«
»Ja, ich verstehe.« Rattner beobachtete, dass die Frau weinte. Trotzdem sprach sie weiterhin sehr schnell, sodass er Mühe hatte, ihre Worte gedanklich zu sortieren.
»War da keine Luft zu leben. Und bei United Nations viele, viele Menschen, zwanzigtausend oder viele mehr. Und United Nations nehmen Bosniaken alle Waffen weg. Sagen, keine Waffen hier, ist alles gut. United Nations passen auf. Aber serbisch Armee alle Waffen. Nicht geben weg an United Nations. Verstehen? Alle Familie denken, hier alles okay, ist