Der Polizist reagierte sofort: »Mike! Du bringst den Hauptkommissar und die Verdächtige zum Verhör. Okay?«
»Was ist mit dem Sohn des Opfers? Wie hat der sich verhalten?«, wollte Rattner wissen.
»Pan… Pantelija Suker? Der sitzt mit der gesamten Familie oben in seiner Wohnung und scheint sich zu beraten. Ehrlich gesagt, wie die absolute Trauer wirkte das nicht.«
»Paul!«, rief Rattner dem Kollegen hinterher. »Mit diesem Pantelija Suker will ich auch unbedingt sprechen! Sieh zu, dass du ihn ins Präsidium bringst.«
»Nur ihn oder die ganze Familie?«
»Paul!«
»Ich mach schon.« Meisner winkte ab.
Minuten später saß Rattner auf der Rückbank eines Einsatzfahrzeuges neben der jungen Frau. Sie sagte kein Wort und wirkte wie in einem tiefen Traumzustand. Kristina Krajic war ungeschminkt, einfach gekleidet mit Jeans und Bluse, ihr langes, dunkles Haar lag offen über den Schultern und sie trug keinerlei Schmuck.
Internationaler Luftraum
18. August
Stokan Vujasinović, ein knapp fünfzigjähriger Serbe, saß am Bullauge des Fliegers und schaute hinaus auf den leeren, langweiligen Flughafen, dessen Areal zwischen Leipzig und Halle in Mitteldeutschland lag. Hier starteten und landeten nicht nur unzählige DHL-Flieger. Auch die NATO, speziell die Amerikaner, nutzte diesen östlichen deutschen Flugplatz, um Versorgungsgüter, Waffen und frische, junge Kämpfer in ihre Besatzungsgebiete zu bringen.
Unbewusst verzog der stoppelbärtige Mann das Gesicht, an dessen Kinn eine trotzdem gut zu erkennende Narbe prangte.
»Hallo«, sagte eine junge Stimme.
Vujasinović schaute nach oben. Na prima! Ein deutscher Jugendlicher auf dem Weg in den Urlaub. »Hey, pozdrav!«, antwortete der Serbe in einer englisch-serbischen Wortkreation, die er sehr häufig benutzte.
»Ich habe 12 B. Ist das der Sitz in der Mitte?«, fragte der Junge, der einen Rucksack in den Händen hielt, den er zunächst auf dem Sitz neben dem Gang abstellte und schließlich öffnete.
»Ja, B ist in der Mitte. Was ist, willst du gern ans Fenster? Mir ist das egal.«
Der Junge lächelte. »Mir auch. Ich sehe eh nichts. Außerdem, bei Final Destination, also, ich meine beim ersten Teil, da sind zuerst alle die rausgeflogen, die direkt an den Fenstern saßen. Ich meine, als das Flugzeug gleich am Anfang vom Film explodiert ist.«
Stokan Vujasinović betrachtete das Gesicht des Jungen und erblickte nun auch den Blindenstock. »Was denn, du bist blind?«, fragte er leise und mit deutlich erkennbarem Akzent.
Fedor schnitt eine für ihn typische, fast einstudiert wirkende Grimasse. »Man kann eben nicht alles haben. Ich komm aber ganz gut damit zurecht.«
»Du bist blind und hast trotzdem Final Destination gesehen? Wie heißt du? Fliegst du ganz allein nach Kroatien?«
Wenigstens Vujasinovićs letzte Frage wurde augenblicklich beantwortet. Ein verdammt kräftiger Kerl schob sich durch den schmalen Mittelgang und fragte den Jungen: »Ich leg den Rucksack ins Gepäckfach. Brauchst du noch was, Fedor?«
Der Junge nahm aus dem geöffneten Rucksack das iPad, die Bluetooth-Braillezeile und das Headset heraus und verschloss den Rucksack wieder. Der Vater verstaute das Handgepäck und den Langstock, fuhr dem Jungen über den Kopf und meinte: »Wenn was ist, dann komm vor zu uns. Beim Start und bei der Landung musst du dein iPad ausmachen.«
»Papa! Ich fliege doch nicht das erste Mal.« Fedor setzte sich auf den mittleren Platz und nahm das iPad und die Braillezeile auf den Schoß. Noch einmal spürte er ein sanftes Klopfen auf seiner Schulter, worauf er flüsterte: »Ich komm schon klar, Papa.«
Sorokin nickte dem Mann neben Fedor zu und fing Anton auf, der gerade durch den Gang flitzte und sehr laut nach ihm rief. Der Hüne hob den kleinen Kerl hoch und trug ihn zurück zu seinem Platz.
»Die meisten wissen das nicht. Es gibt auch Fernsehen für Blinde. Da wird einem erklärt, was gerade zu sehen ist. Das sind manchmal verdammt viele Informationen auf einmal, vor allem dann, wenn die Schauspieler gerade reden. Ist aber besser als nichts«, erklärte der Junge.
»Du heißt also Fedor? Und wie noch?«
»Sorokin.«
»Und wo geht’s hin?«, fragte der Mann neben ihm, während er aus dem Bullauge schaute und einen Gepäcktransporter beobachtete, der mit drei leeren Hängern über den Beton raste.
»Ins DVR-Hotel in der Ferienanlage Borik«, antwortete Fedor und erklärte sofort: »Wir sind fünf. Sie hatten aber keine zusammenhängenden Plätze mehr. Ist aber nicht so schlimm. Anton und Natascha können nämlich mächtig nerven.«
»Ihr macht Urlaub in Kroatien?«
»Ja.« Fedors Finger fuhren über das iPad, das noch ausgeschaltet war, seine Wangen färbten sich ein wenig rot. »Urlaub.«
»Euren Namen nach seid ihr aber auch nicht aus Deutschland?«, fragte Vujasinović.
»Ja und nein. Wir sind offiziell Deutsche. Aber ich wurde in Russland geboren, weit im Osten, am Ural. Und Mama und die beiden Kleinen kommen aus Moskau.«
»Du sprichst gut Deutsch. Bei dir hört man kein bisschen, dass du aus Russland stammst. Fedor heißt du?«
»Ja. Ich war noch ziemlich winzig, als ich Deutscher wurde. Und Sie?« Der Junge drehte seinen Kopf ein wenig zu diesem Mann hin, nicht, um ihn zu sehen, sondern um ihn zu riechen. Er kannte den Duft von dessen Parfüm. Jekaterina hatte ihrem Mann zu Weihnachten ein Duftwasser geschenkt. Das war nicht so gut. Allerdings brachte sie einige Gratisproben mit. Und die hatte Fedor getestet. Eine gefiel der neuen Mutter besonders gut. Und auch Fedor genoss den Geruch, der tagelang an ihm haften blieb. Das Parfüm trug den lustigen Namen »Bang Bang« und roch nach verschiedenen Dingen, die Fedors feiner Geruchssinn speicherte. Er atmete in diesem Moment durch die Nase ein und verdrängte die meist unangenehmen Gerüche im Inneren des Fliegers: die des Kaffees, die der Toiletten und vor allem die der angstschwitzenden Passagiere.
»Ich heiße Stokan Vujasinović. Aber sag einfach Stokan zu mir.«
Die Nasenflügel des blinden Jungen bebten kaum merklich. Er roch frische Zitrone. »Stokan?«, flüsterte Fedor. »Ist das ein kroatischer Name?«
»Nicht nur.«
Nun erkannte Fedor eine Fenchelnote. »Sind Sie denn überhaupt aus Kroatien?«
»Nein. Ich fliege geschäftlich hin. Ich bin aus Novi Sad. Kennst du die Stadt?«
Eine herbe, erdige Note: Fedor hatte einst lange suchen müssen, bis er herausfand, zu welcher Pflanze dieser Duft gehörte. Es handelte sich um schwarzes Kardamom, einem in Nepal und Indien angebauten Ingwergewächs, dessen Samen zu einem Gewürz verarbeitet wurde, das deutlich nach Nadelholz roch und schmeckte. Die Parfümindustrie fand den Geruch männlich und setzte ihn dezent ein. Fedor erkannte den Geruch aber auch bei bestimmtem Gebäck wieder, zum Beispiel bei Pfefferkuchen und Spekulatius. – »Novi Sad. Ich glaube ja. Das liegt doch in Serbien? An …, an der Donau?«
»Korrekt. Woher weißt du das von meiner Geburtsstadt?«
Zuletzt war da ein Hauch von Muscon, dem künstlich hergestellten Duftstoff des Moschus’. »Aus der Schule«, antwortete Fedor und schien nun wieder die Rückenlehne des Sitzes vor sich anzustarren.
»Und was haben sie euch erzählt in der Schule? Was sagen sie über Novi Sad?«
»Ich weiß nicht mehr genau. Es spielte – glaube ich wenigstens – eine strategisch wichtige Rolle im Jugoslawienkrieg.«
Jemand aus dem Cockpit meldete sich, erzählte die standardmäßigen Dinge, wie vor jedem Flug