Rasch hob Fedor den oberen Teil des Koffers an, gerade so weit, dass seine rechte Hand hineinkrauchen und alles abtasten konnte. Es waren Papiere darin. Die könnte er zwar einscannen und sich anschließend vorlesen lassen, doch das würde viel zu lange dauern. Später vielleicht. Dann fand Fedor ein Handy. Es schien ein sehr modernes Smartphone zu sein. Auch das ließ er in Ruhe. Doch den winzigen USB-Stick, der in einer schmalen Seitentasche steckte, den nahm er an sich, schloss dann leise den Koffer, ohne die Rädchen zu drehen, und schlich in sein Zimmer.
Der eigene Rechner lief ohnehin. Er war fast immer eingeschaltet. Geschickt steckte Fedor den Stick in einen USB-Anschluss und setzte sich das Headset auf. »Wollen Sie …«, fragte eine generierte Stimme, doch sie brach ab, denn Fedor hatte bereits die Enter-Taste gedrückt – Ordner öffnen!
»Eine Onlineverbindung ist notwendig«, krächzte die Computerstimme.
Fedor ging online.
Kurz darauf meldete sich der Computer erneut: »Code eingeben!«
Fedors Finger schwirrten über die Blindentastatur: »ameise1204«. Diesen Code benutzte der Vater praktisch immer, wenn es um Computer ging.
»Code angenommen. Sie sind jetzt auf der geschützten Seite https Doppelpunkt slash slash smi Punkt Sachsen Punkt gd172189 slash Ameise1204 Punkt htm slash …«
»Sächsisches Innenministerium«, flüsterte Fedor und lauschte weiter der ungeschickt und monoton sprechenden Stimme.
»Ihnen stehen folgende Ordner zur Verfügung: Erstens: DOC001. Wollen Sie …?«
Riesig war die Auswahl nicht gerade. Wieder drückte Fedor auf die Enter-Taste.
»Ihnen stehen im Ordner DOC001 folgende Dokumente zur Verfügung: Erstens: MAP001 Punkt PDF. Zweitens: MAP002 Punkt PDF. – Bitte wählen Sie das Dokument aus.«
»MAP001 Punkt PDF!«, raunte Fedor in das Mikrofon.
»Soll die Texterkennung durchgeführt werden?«
»Ja!«
Der Computer surrte kaum hörbar.
»Texterkennung nicht möglich.«
Fedors Stirn schlug ein paar unbedeutende Falten. Dann waren in diesem Dokument wahrscheinlich nur Bilder enthalten. Und die konnte ihm beim besten Willen niemand übersetzen. Er berührte die Zurück-Taste und sagte: »MAP002 Punkt PDF.«
»Soll die Texterkennung durchgeführt werden?«
»Ja, verdammt!«
»Texterkennung durchgeführt. Zielobjekt Doppelpunkt männlich Komma ce a Punkt 29 Komma benutztes Pseudonym Doppelpunkt Pilot112194 Komma ethnische Herkunft Doppelpunkt kroatischer Serbe Komma Gefahrenpotential Doppelpunkt sehr hoch Kontaktperson Doppelpunkt Božidar Seitenende Neue Seite Pilot112194 Mögliche BM Doppelpunkt Planungsunterlagen Anschlag Komma Kartenmaterial BRD Komma Sachsen Komma Hard Minus Software Schrägstrich MANPADS Klammer auf RBS 70 o Punkt RBS 90 u Punkt f Punkt …«
Ein Fahrzeuggeräusch! Fedor riss sich das Headset vom Kopf. »Mist!« Er suchte auf der Tastatur, überhastet, drückte erst die falsche Taste, dann gelang es ihm, die Onlineverbindung zu unterbrechen und die Ordner auf dem eigenen Rechner zu schließen. Er zerrte den Stick regelrecht aus dem USB-Anschluss und ging zur angelehnten Tür seines Zimmers.
»Hallo! Wir sind wieder da!« Die Stimme der Mutter bohrte sich in Fedors Ohren. Er spürte Natascha an sich vorbeilaufen, machte vier feste Schritte, öffnete den Koffer, steckte den USB-Stick in die kleine Tasche im Koffer, schloss ihn, verstellte beide Nummernschlösser, ging zwei Schritte nach rechts und einen schräg nach vorn und ließ sich – ohne die Sitzfläche vorher abzufühlen – auf das Sofa fallen. Das Bein irgendeiner Barbiepuppe von Natascha stach Fedor derb in den Oberschenkel. Im gleichen Moment fühlte er eine Hand auf seinem Kopf.
»Na Großer, alles okay bei dir?« – Papa!
Sorokin schenkte dem rötlich gefärbten Gesicht seines Sohnes keine Beachtung.
»Klar doch. Und bei euch?«
»Auch alles okay.«
Fedor ließ die angesammelte Luft aus der Lunge. Dann zog er die Puppe unter sich hervor und warf sie mit Wucht auf den flachen Tisch neben die Fernbedienung.
Anton schwang sich neben Fedor auf das Sofa und rief: »Kuck, Auto neu!«
Fedor streckte die rechte Hand aus, um das neue Spielzeugauto zu erfühlen. Doch Anton traute ihm nicht.
»Mein Auto«, sagte er stattdessen.
»Dann lass es eben sein.« Fedor erhob sich.
Pilot112194 … kroatischer Serbe … MANPADS … RBS 70 … Božidar – das waren genau die Begriffe, die sich in sein Gehirn eingebrannt hatten. Er würde viel recherchieren müssen.
»Heute geht es früh ins Bett!«, legte Jekaterina laut und deutlich fest. »Gleich nach dem … ähm Uzhin …«
»Abendessen«, half Fedor nach. »Wann genau gibt es das?«
Die Mutter berührte seine Schulter. »Du hast schon Hunger?«
»Nein«, antwortete Fedor. »Aber wenn es noch ein bisschen dauert, dann packe ich inzwischen mein Handgepäck zusammen.«
»In dreißig Minuten. Khorosho? Denk an das Gewicht, Fedor.«
»So viel wiegt mein iPad nicht.«
»Nimmst du nur dein iPad mit?« Mehr konnte die Mutter nicht sagen, denn Fedor hatte ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange gegeben und war bereits in seinem Zimmer verschwunden.
Im Grunde genommen war sein Reisegepäck wahrscheinlich ähnlich zusammengesetzt wie das eines durchschnittlichen sehenden Jugendlichen in seinem Alter. Das Smartphone wurde wegen des blindenfreundlichen Apple-Tablets mehr und mehr vernachlässigt, denn mit dem iPad konnte Fedor ebenso telefonieren wie enorm wichtige Dinge aus dem Netz laden und Mitteilungen versenden. Natürlich war seine elektronische Ausrüstung etwas komfortabler als die eines durchschnittlichen reisenden Jugendlichen.
Fedor benutzte eine hochwertige Bluetooth-Braillezeile. Dieses schmale, einer Tastatur gleichende Bauteil ersetzte ihm die Monitoroberfläche, denn über ein kompliziertes Verfahren wurde die Schrift vom Monitor auf der Braillezeile in Brailleschrift wiedergegeben, die er mit den Fingern lesen konnte. Die Informationsaufnahme über das Lesen war aufwendiger als die über das Hören, wenn ihm die Computerstimme etwas vorlas. Jedoch konnte Fedor mit der Braillezeile selbst geschriebene Mitteilungen prüfen und natürlich die Schreibweise ihm wenig bekannter Wörter nachvollziehen. Die Stimme des Screenreader-Programms verlieh seinem iPad sogar einen Namen, denn Fedor nannte es Alex. Das kam daher, dass Alex die Stimme von VoiceOver war. Nach seinem Empfinden war es eine der besten synthetischen Stimmen. Nicht vollendet gut, aber immerhin befriedigend, mitunter fast etwas menschlich. VoiceOver war ein Programm, das auf dem iPad lief und dafür sorgte, dass dieser künstliche Alex alles erklärte, was zu sehen oder zu lesen war. Es sorgte auch dafür, dass Fedor sein iPad über Handgesten steuern konnte. Aktivierte Fedor durch einen Dreifachklick auf die Hometaste die VoiceOver-Steuerung und berührte das Display, so erklärte ihm Alex, was sich auf dem Display befand. Jede beliebige Taste konnte er dann mit einer Doppelberührung aktivieren. Mit bestimmten Fingerbewegungen, den sogenannten »Gesten«, konnte der blinde Junge problemlos das iPad bedienen. Noch genialer war für ihn die »Rotor-Funktion«. Bewegte er zwei Finger auf dem Display,