Der Thronfolger war nicht zuletzt wegen seines Jähzorns berüchtigt. Ich selbst habe noch, als Kabinettsvizedirektor beim Bundespräsidenten Körner, einen alten Burg-Gendarmen kennengelernt, den Herrn Ferenc. Das war ein baumlanger Kerl, der nur deshalb Burg-Gendarm geworden war, weil er einmal, wie mir der alte Baron Wilhelm Klastersky erzählte, den Thronfolger bei einem seiner Wutausbrüche beim Rock gepackt und ein bisschen unsanft zur Ruhe gebracht hatte. Danach konnte er natürlich nicht in der Umgebung des Thronfolgers bleiben, und so wurde er zur Burg-Gendarmerie versetzt. Später, in der Zweiten Republik, hat er dem ersten und dem zweiten Bundespräsidenten gedient und ist erst in hohem Alter gestorben. Sehr viel über die Zustände am Hof lernt man aus den Gedichten der Kaiserin Elisabeth. Sie sind ein bisschen im Stil ihres Lieblingsdichters Heinrich Heine verfasst.
Zu allem Unglück hatte der neue Kaiser auch noch eine Frau, die fortwährend zu Spekulationen Anlass gab. Jedermann glaubte, dass Kaiserin Zita aus dem Hause Bourbon-Parma einen großen Einfluss auf Karl hatte. Alle waren sich einig darin, dass sie die sogenannten Sixtusbriefe veranlasst hatte, in denen Karl Frankreich ein Friedensangebot unterbreitete, das die Abtretung von Elsaß-Lothringen an Frankreich vorsah. Da Zita im österreichischen Volk als Italienerin galt, stand sie ohnehin in dem Ruf, eine Verräterin zu sein. Seit Italien 1915 aus dem Dreibund ausgeschieden war, galt es als Land des Verrats schlechthin, und dieses Bild wurde nun auf die Person der Kaiserin übertragen.
Zita soll vor einigen Jahren gesagt haben, sie könnte sich durchaus vorstellen, dass ich unter ihrem damals schon längst verstorbenen Mann Ministerpräsident gewesen wäre. Ich glaube, das war der Versuch einer Captatio als Dank für meine Bemerkung, das Habsburger-Gesetz, das heißt die darin geforderte Verzichtserklärung auf alle Herrschaftsansprüche, habe für sie keine Gültigkeit, da eine weibliche Thronfolge ohnehin nicht in Betracht komme. Regierungschef in einer Habsburger Monarchie – dazu reicht meine Vorstellungskraft nicht aus, und wahrscheinlich wäre ich allenfalls bis an die Pforte der Gnaden gekommen. In den Dreißigerjahren lautete die Parole der österreichischen Sozialdemokraten: Weder Habsburg noch Hitler. Schuschnigg, Bundeskanzler nach der Ermordung von Dollfuß, scheint damals tatsächlich mit dem Gedanken gespielt zu haben, die Monarchie wieder herzustellen. Mehrmals hat er über Mittelsmänner Kontakt zu Otto von Habsburg aufgenommen. Mir ist der Gedanke einer Restauration im kleinen Österreich immer etwas merkwürdig vorgekommen. Sollte es ein Habsburgerreich in den Grenzen von 1918 geben? Etwas anderes hätte ja sofort Krieg bedeutet. Zu was hätte man Otto degradieren sollen? Zum Kaiser in Österreich? Zum Reichsverweser?
Karl hat seinerzeit zweimal den Versuch unternommen, wenigstens in Ungarn wieder auf den Thron zu kommen, und es waren die ungarischen Magnaten, die das verhindert haben. Sie waren zum großen Teil antiösterreichisch, und der Habsburger Erzherzog Albrecht, der sich als Ungar betrachtete, beteiligte sich an der legitimistischen Opposition gegen Karl. Da aber Ungarn ein Königreich war, hatte Horthy die Gelegenheit wahrgenommen, sich unter dem Titel eines Reichsverwesers sozusagen zu inthronisieren, und er dachte gar nicht daran, das aufzugeben. Beide Male ist Karl vollkommen ungeschoren durch Österreich gefahren, einmal sogar unter dem Schutz des sozialdemokratischen Landeshauptmanns von Niederösterreich, Albert Sever.
Gegenüber der Monarchie befinde ich mich in einer leicht ambivalenten Situation. Ich habe sie ja kaum mehr erlebt. Die »Nostalgie«, wie man das heute gelegentlich bezeichnet, ist bei den Österreichem tiefer verwurzelt, als man annimmt, nicht nur bei denen, die das Kaiserreich in seinem Abglanz noch erlebt haben, sondern auch bei den Jungen, denen dies alles eine unbekannte, fremde Welt ist. Nicht zuletzt für die Sozialdemokratie liegt über der untergehenden Monarchie ein Hauch von Melancholie und sogar Anmut. Am 11. November 1918 ging ich mit meinem Vater die Schönbrunner Straße hinauf. Die Gegend gehörte zwar nicht zu den Nobelbezirken, aber der Familie gehörten dort einige Häuser, und so kamen wir zu günstigen Bedingungen zu einer schönen Wohnung. Es gab dort alte Häuser aus dem Biedermeier, und um die Jahrhundertwende hatte man dann elegante Villen und Mietshäuser im Jugendstil errichtet, denn die Straßen nach Schönbrunn sollten allmählich zu Prachtstraßen ausgebaut werden. Die prächtigste von ihnen sollte die Wienzeile werden, weil sie der Kaiser auf dem Weg nach Schönbrunn benutzte, und noch heute stehen dort ein paar unfassbar schöne Häuser aus dieser Zeit.
Ich ging also mit meinem Vater dort entlang, und vor einem Haus, das mir immer schon aufgefallen war, weil dort häufig ein Automobil stand, traf mein Vater eine ihm bekannte Dame. Es war dies das Haus von Karl Seitz, und bei der Bekannten meines Vaters handelte es sich um eine Sozialdemokratin. Ich sah, wie meinem Vater nach den ersten Worten ein Schreck durch die Glieder fuhr, und als ich ihn beim Weitergehen fragte, was denn geschehen sei, erfuhr ich, dass vor wenigen Stunden Victor Adler gestorben war. Das hatte offenbar meinen Vater sehr erschüttert, und heute weiß ich, dass es vielen auch außerhalb der Partei so erging. Viele fragten sich, was nun aus Österreich werden solle. Victor Adler, der Gründer der österreichischen Sozialdemokratie, war nur 66 Jahre alt geworden.
Infolge meiner Jugend habe ich Victor Adler natürlich nicht persönlich gekannt. Menschen, die man nicht gekannt hat, können einem jedoch dadurch, dass sie in der Erinnerung weiterleben, und indem ununterbrochen von ihnen gesprochen wird, so bewusst werden, als hätte man sie gekannt und als wären sie unter uns. Mir jedenfalls ging es so mit den meisten Parteiführern der ersten Stunde. Ich führe das auf den Umstand zurück, dass es weder Radio noch Fernsehen gab; ihre Aufsätze in den Zeitungen und die Sammelbände mit ihren Reden fanden daher eine viel stärkere Verbreitung als heute. Im Zeitalter der Television haftet nicht nur den Reden der Politiker, sondern auch ihrem ganzen Erscheinungsbild eine gewisse Flüchtigkeit an.
Über die Parteiführer der ersten Stunde wurde viel geschrieben, und sofern ihrer Führerschaft auch theoretische Bedeutung zukam, bildeten sich um diese Männer politische Schulen. Victor Adler war ohne jeden Zweifel ein Weiser in der Politik, ein Weiser auf gütige, leicht ironische Art. Viele seiner Formulierungen haben ihn lange überlebt. Stefan Großmann beschreibt in »Ich war begeistert« die Schlagfertigkeit Adlers: »Auch in den Generalstreikdebatten, die die nichtöffentlichen Beratungen der Partei ausfüllten, schien er zuweilen ein Zögerer, ein Cunctator. Als man ihm diese für einen Revolutionär unpassende Bedenklichkeit vorwarf, sprach er das große Wort gelassen aus: »Das Gehirn ist ein Hemmungsorgan.«
»Wenn man in der Arbeiter-Zeitung schreiben will«, hat er einmal zu einem Journalisten gesagt, bei dem er es für notwendig hielt, »dann müssen die Leute spüren, dass man sie gern hat.« Ich bin in meinem Leben gelegentlich Leuten begegnet, die ein großes Publikum vielleicht gern gehabt haben, vor allem wenn es ihnen Beifall spendete, die aber dem Einzelnen gegenüber ungeduldig wurden und, wenn man ihnen unangenehme Fragen stellte, sogar irritiert waren.
Am 21. Oktober 1916 erschoss Friedrich Adler, ein Physiker, den Ministerpräsidenten Graf Stürgkh in einem Restaurant. Victor Adler, der seinen Sohn und dessen menschliche Güte kannte, sagte im Prozess: »Ich habe es ja nicht glauben wollen, dass ein solcher Exzess des Mathematischen möglich ist.« Und als es wegen dieses Attentats dann mitten im Krieg zur Einberufung des Parlaments kam, was er bis dahin vergeblich verlangt hatte, muss das eine schmerzliche Genugtuung für ihn gewesen sein. Victor Adler hat weniger der Mord selber erschüttert als vielmehr die Verletzung der Ordnung.
Victor Adler spielte bis in die letzten Tage seines Lebens eine große Rolle. Er wusste sehr genau, dass Österreich eine düstere Zeit bevorstand, und so begab er sich, ausgerüstet mit der großen Reputation, die er sich im österreichischen Reichsrat erworben hatte, zu den ihm persönlich bekannten Führern der Nachfolgestaaten und wollte sie dazu bewegen, dass sie, wenn sie schon eigene Wege gingen, doch zumindest das, was man eine mitteleuropäische Wirtschaftsgemeinschaft hätte nennen können, versuchen sollten zu erhalten. Das Problem, das Adler sehr deutlich sah, beschrieb Karl Renner zehn Jahre später in einem Artikel im Kampf wie folgt: »Die Ökonomie der Welt bestimmt die Weltpolitik: In diesem Satze erfährt die Marxsche Geschichtsauffassung ihre Anwendung auf höchster Stufenleiter. Die Weltökonomie aber ist nach dem Kriege in wesentlichen Stücken verändert. Nicht nur die mächtige