In weiterer Folge sollte Kreisky als Staatssekretär eine wichtige analytische und vermittelnde Rolle bei den Staatsvertragsverhandlungen spielen und entwickelte sich sehr rasch zum außenpolitischen Kopf der SPÖ. Doch die innerparteiliche Karriere sollte er in der niederösterreichischen »Wüste« fortsetzen; die Partei des »Roten Wien« hatte Kreisky auch nach 1945 trotz engagierter Versuche des Gewerkschaftsfunktionärs und späteren ÖGB-Präsiedenten Franz Olahs abgelehnt. Daher zog er 1956 als St. Pöltner Nationalratsabgeordneter in den Nationalrat ein.
Bei den Aufnahmen zu seinen Erinnerungen: Bruno Kreisky im Gespräch mit Margit Schmidt und Oliver Rathkolb.
Als Außenminister von 1959 bis 1966 überraschte Kreisky die politische Szene und vor allem die Wählerinnen und Wähler, als er ein bisheriges ÖVP-Thema, die Südtirolfrage, in das Zentrum seiner Aktivitäten stellte, vor der UNO engagiert für die Minderheitenrechte in Südtirol eintrat und fast mit Saragat eine Autonomielösung ausgehandelt hätte. Auch im Ministerium selbst betrieb er nicht die übliche Parteipolitik, sondern setzte auf unabhängige Diplomaten, aber auch ÖVP-Mitglieder. Trotzdem wurde er in dieser Zeit der zunehmend über die SPÖ-Wählerschaft hinausgehenden Popularität immer wieder in der rechten Boulevardpresse als »Emigrant« und »Jude« attackiert.
Wirklich öffentlich präsentieren konnte sich Bruno Kreisky aber wegen seines speziellen Zugangs zu Journalisten unterschiedlicher politischer Ausrichtung, die er bereits seit den 1950er Jahren immer wieder kontaktierte und de facto phasenweise in sein politisches Wirken integrierte. Kreisky war in diesem Sinne sehr amerikanisiert und profitierte auch von der Kennedy-Ära. Gegen massive Widerstände der Berufsdiplomaten heuerte er um 1960 PR-Fachleute an, die ihm Zugang zu US-Entscheidungsträgern außerhalb der offiziellen Besuchsszenarien verschafften.
Ähnlich wie Kennedy in den USA war Kreisky auch ein Produkt der – zeitverzögerten – Nachkriegsrebellionen, die in den USA zum Civil Rights Movement und in Europa zu den national unterschiedlich artikulierten Studenten- und Jugendkonfrontationen führten. Gleichzeitig war er ein gewiegter politischer Pragmatiker, der vorsichtig auslotete, wie viele Reformen die Gesellschaft hinzunehmen bereit war.
Während ÖVP-Kanzler Julius Raab das Fernsehen als »Kastl« abtat, den Rundfunk als zentrales politisches Medium forcierte und im Proporzschema das Fernsehen der SPÖ überlassen hatte, erkannte Kreisky sehr früh die Bedeutung dieses Mediums. In den inzwischen in die Fernsehgeschichte eingegangenen Debatten mit Bundeskanzler Klaus dominierte Kreisky aufgrund seiner Natürlichkeit, Schlagfertigkeit, aber auch des Bestrebens, komplizierte Dinge einfach und prägnant zu formulieren, und nicht mit einem griffigen Bonmot zu geizen.
Wie kein anderer SPÖ-Parteivorsitzender seit 1945 war Bruno Kreisky imstande, binnen weniger Jahre nicht nur die Partei zu einigen und traditionelle SPÖ-Wählersegmente wieder auszuschöpfen, sondern auch junge und intellektuelle mobile Wähler und Wählerinnen anzusprechen. So signalisierte er bereits in seiner Rede unmittelbar nach der Wahl zum Parteivorsitzenden (mit 63 Prozent der Parteivorstands- und immerhin 70 Prozent der Parteitagsdelegiertenstimmen), dass es bei dieser Wahl nicht nur um zwei Parteifraktionen, sondern auch um wesentlich andere inhaltliche Konzepte gegangen war. Und er zeigte ideologische Kampfbereitschaft, indem er dem Problem der Automation und dem damit verbundenen Verlust von Arbeitsplätzen besonderes Augenmerk widmen wollte. Retrospektiv analysiert, sind die klaren Codes, die Kreisky damals ausgesandt hat, auch für die kommenden Jahre gültig geblieben: Modernität, jedoch mit dem Menschen als Mittelpunkt (im Sinne des Parteiprogramms 1958), wissenschaftliche Methoden zur Entwicklung politischer Strategien sowie ein Minimum an ideologischer Grundsatztreue, mit gezielten historischen Rückbesinnungen auf die Zwischenkriegszeit und die großen Austromarxisten. Gleichzeitig positionierte Kreisky sich aber immer als durchaus bürgerlicher Humanist und vermied jeden Anschein von klassenkämpferischen Parolen, ohne auf die Forderung nach gesellschaftlichen Veränderungen zu verzichten. Fast wie zur Beruhigung der eher rechts der Mitte orientierten Wählermehrheit inszenierte er aus seiner Herkunft einen großbürgerlichen Lebensstil.
Immer wieder betonte Kreisky, und zwar lange vor der 1970er-Wahl: »Unsere Partei ist eine offene Partei. Sie ist offen für alle, die mit uns arbeiten wollen.« Zu diesem Konzept der »offenen Partei« gehörte auch eine Fortsetzung des Ausgleichs mit der katholischen Kirche, die der Agnostiker Kreisky konsequent betrieb. Heikle Fragen wie die Entkriminalisierung der Abtreibung in Verbindung mit der Fristenlösung wurden vor 1970 nicht offensiv diskutiert und sollten erst in den folgenden Jahren eine wichtige innenpolitische Rolle spielen.
Die Reformvorstellungen der SPÖ wurden vor allem in bisher von der ÖVP-dominierten Kleingemeinden gut aufgenommen, mit Schwerpunkten bei der gehobenen Mittelschicht, Frauen, Angestellten und Jungwählern. Insgesamt wanderten 158.000 Stimmen direkt von der ÖVP zur SPÖ. Die Kerngebiete des SPÖ-Zuwachses waren überdies vom primären Strukturwandel besonders betroffen. Peter Ulram hat die Nationalratswahlergebnisse 1970 bis 1979 mit folgender These zusammengefaßt: »Die SPÖ hat es also geschafft, die sozial-liberale Interessen- und Wertkoalition in eine mehr als ein Jahrzehnt andauernde Wählerkoalition zu transformieren und so zur hegemonialen Kraft des österreichischen Parteiensystems aufzusteigen.«
Bruno Kreiskys politische Stärke lag sicherlich in der dialektischen Auseinandersetzung mit den politischen Mainstreams in Österreich – als Folge dieser mehrfachen Ausgrenzung als Jude, Intellektueller und Exilant. Einhart Lorenz spricht im Falle Brandts von »Doppeldenken«, eine Zuschreibung, die auch auf Kreisky zutrifft, aber auch zur Folge hat, dass er zwar politische Trends früher als andere erkennt und offensiv aufgreift, Tabuthemen, die ihm direkt politisch schaden könnten wie eine intensive Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit von fast einer Million Österreichern und Österreicherinnen und ihrer Rolle bei der Vorbereitung und Durchführung der Shoa, aber versucht zu unterdrücken. Mit allen Mitteln wollte er Anzeichen einer »Parteilichkeit« aufgrund seiner jüdischen Herkunft vermeiden und überließ daher auch lange Zeit die „Wiedergutmachungsverhandlungen« anderen Politikern. Dass er 1970 auf die Enthüllungen Simon Wiesenthals über drei ehemalige NSDAP-Mitglieder und einen SS Mann in der ersten Kreisky-Regierung heftig emotional reagierte, hängt damit zusammen, dass er Wiesenthal der Parteipolitik verdächtigte: Zur Zeit der Großen Koalition unter ÖVP-Führung hatte dieser das Tabu, Regierungsmitglieder nicht wegen ihrer ehemaligen NSDAP-Mitgliedschaft zu kritisieren, durchaus eingehalten, wie das beispielsweise der Fall Reinhard Kamitz zeigte. 1975 eskalierte die Auseinandersetzung mit Simon Wiesenthal neuerlich, als dieser Bundespräsident Rudolf Kirchschläger von der Tatsache informierte, dass FPÖ-Obmann Friedrich Peter, einer SS-Einheit angehört hatte, die in Vernichtungsaktionen verwickelt war. Wiesenthal hatte diese Information bereits im Wahlkampf gehabt, sie aber geheim gehalten. Kreiskys Reaktion war emotional und überzogen, was ihm gerne als Versuch ausgelegt wird, die »Ehemaligen« als Wähler zu keilen. Doch in diesem Fall handelte es sich um ein persönliches Tabu, das Wiesenthal – unbewusst oder bewusst – angesprochen hatte. Bruno Kreisky wollte nicht als Jude gegen jenen gesellschaftlichen Block ausgespielt werden, der die Reintegration der ehemaligen NSDAP-Mitglieder befürwortete.
Die Prägung durch die Traumata der Zwischenkriegszeit führte zum politischen Versuch, aus der Geschichte zu lernen. Bruno Kreisky setzte bereits im schwedischen Exil und vor allem dann als Außenminister 1959 – 1966 und Bundeskanzler 1970 – 1983 sowie als Elder Statesman auf die Möglichkeit, dass politische Akteure künftig einen Dritten Weltkrieg verhindern könnten, und propagierte daher immer wieder Ideen zur internationalen Konflikt- und Problemlösung, die heute als Global Management bezeichnet werden. Internationale Entspannungspolitik und die Auseinandersetzung mit dem Kalten Krieg waren für ihn keineswegs nur »Außenpolitik«, sondern zentrale Fragen der Innenpolitik. Kreiskys Ziel war es, die militärisch nicht garantierte und militärisch fragile Neutralität Österreichs durch eine aktive Nachbarschaftspolitik zu stabilisieren – durch Verträge mit Jugoslawien, Ungarn und der Tschechoslowakei