Aufgrund des schon erwähnten Reichsvolksschulgesetzes war mein Großvater verantwortlicher Schulleiter geworden. Dies konnte nach den Bestimmungen nur werden, wer die »Befähigung zum Religionsunterricht jenes Glaubensbekenntnisses nachweisen konnte, welchem die Mehrzahl der Schüler nach dem Durchschnitte der vorausgegangenen fünf Schuljahre angehört«. Die Bestimmung lautete nicht, es dürfe kein Jude sein, aber das war natürlich die Absicht, die dahintersteckte. Da es unter den einundzwanzig Schülern der einklassigen Volksschule in Kaladei jedoch siebzehn Schüler israelitischen Glaubens gab, konnte man meinem Großvater die Stelle des Oberlehrers nicht verwehren. Später wurde mein Großvater stellvertretender Direktor der Lehrerbildungsanstalt in Budweis. Stellvertreter deshalb, weil er eben aufgrund des Reichsvolksschulgesetzes der Mehrheit der dortigen Schüler den Religionsunterricht nicht erteilen konnte. Sein Schwager, Joseph Neuwirth, hat dem damaligen Unterrichtsminister die Frage gestellt, ob denn keine Ausnahmebestimmung möglich sei. Es gäbe keine Verpflichtung, wurde ihm geantwortet, in Budweis einen Direktor zu bestellen, und solange mein Großvater an dieser Anstalt wirke, werde es keinen Direktor geben. Die Lehrerbildungsanstalt in Budweis versorgte das ganze nördliche Österreich mit Schullehrern, und ich habe bei sozialdemokratischen Versammlungen im Waldviertel oft alte Lehrer getroffen, die noch im Schlapphut und mit großer Krawatte erschienen und die mir die Frage stellten, ob der Direktor Kreisky in der Lehrerbildungsanstalt in Budweis mein Vater gewesen sei. »Nein, er war mein Großvater.«
Wie mir alte Bauern aus Kaladei erzählt haben, hat sich mein Großvater der besonderen Zuneigung seines Patrimonialherrn, des Grafen Wratislaw, erfreut. Als sich mein Großvater einer schwierigen Gallenoperation unterziehen musste, wurde sein Schwager, Professor Beer, ein berühmter Arzt aus Prag, nach Kaladei geholt. Ein langer Transport konnte dem Kranken nicht mehr zugemutet werden, und so beschloss man, ihn im Speisesaal der Grafen zu operieren, weil dort das beste Licht war; die Bauern haben die Schlaglöcher der Straße zum Schloss mit Stroh zugestopft, damit der Wagen nicht zu sehr rüttelte. Lange nachdem mein Großvater in Pension gegangen und nach Wien gezogen war, kamen alljährlich an seinem Geburtstag die Bauern aus Kaladei in die Stadt; schwere Männer mit großen Bärten, um ihm zu gratulieren. Sie hatten alle Kostbarkeiten bei sich, die die böhmische Erde hervorbringt: große Laibe domácí chléb (»Hausbrot«), Würste und Schinken. Obwohl mein Großvater Jude war und das nie bestritten hat, aß er offenbar leidenschaftlich gern Schinken, und die Bauern haben das gewusst.
Der Großvater war für uns der Inbegriff der Güte, rührend besorgt um alles, nicht zuletzt um die Zukunft seiner Söhne. Sie alle haben in ihren Berufen Erfolg gehabt, es zu einem gewissen Wohlstand und einem guten Namen gebracht. Nur eine Schwester meines Vaters war wirtschaftlich nicht besonders gut gestellt. Sie war mit einem Frontsoldaten verheiratet, der nach der Rückkehr aus dem Krieg nicht so recht Fuß fassen konnte; er betrieb die Auslieferung für Budweiser Bier in Allentsteig im Waldviertel. Ich erinnere mich, dass es in diesem Winkel Österreichs im Sommer nie warm wurde und der Winter von einer sibirischen Kälte war. Wie kalt es war, konnte man daran sehen, dass das Eis im sogenannten amerikanischen Eiskeller, in dem das Bier gelagert wurde, auch im Sommer nicht geschmolzen ist. Obwohl Wilhelm Schnürmacher ein Vaterlandsverteidiger und Invalide war, ist er mit einem großen Teil seiner Familie, wie man nach dem Krieg sagte, »ins Gas gegangen«.
Eine andere Schwester meines Vaters, die ich sehr gern hatte und die sehr intelligent war, wohnte ebenfalls im Waldviertel, in Gars. Sie war mit einem Arzt verheiratet, den ich aber nicht mehr kennengelernt habe. Ihr Sohn war Zionist der ersten Stunde, und zwar am rechtesten Flügel, ein Anhänger des Revisionisten Wladimir Jabotinski. Dieser Cousin, Viktor Much, hat einen ganzen Sommer hindurch mit viel Geschick versucht, mich für den Zionismus zu begeistern. Der Erfolg war, dass ich mich für diese Richtung zwar zu interessieren begann, sie aber ablehnte. Es ist also nicht so, dass ich erst sehr spät mit dem Zionismus konfrontiert worden wäre. Obwohl die zionistische Jugendbewegung in dem berühmten Psychoanalytiker Dr. Siegfried Bernfeld, einem der führenden Schüler Sigmund Freuds, einen Gründer besaß, der, wenn man so will, der große Theoretiker der Jugendbewegung überhaupt gewesen ist, konnte ich mich für die Ideen des Zionismus nicht erwärmen. Mein Cousin ging konsequenterweise sehr früh nach Palästina und wurde ein weithin berühmter Augenarzt; zu seinen Patienten zählten Scheichs aus vielen arabischen Ländern, da es ja bei den Arabern bekanntlich sehr häufig schwere Augenkrankheiten gibt. Nach dem Tod seiner Mutter 1958 ist er nach Wien zurückgekehrt.
Tante Rosa war übrigens die letzte aus der Familie, die ich sah, bevor ich an jenem Dienstag nach dem »Anschluss« wieder in Haft ging. Ich wollte meiner alten Großmutter, die damals 92 Jahre alt war, einen letzten Besuch abstatten, weil ich das Gefühl hatte, sie nie wiederzusehen. Es war eine der ergreifendsten Begegnungen dieser Zeit. Einst war sie eine der ersten Lehrerinnen der Monarchie gewesen, und nun saß sie da mit weißem Haar, wunderschönen Augen und sehr alten, schon sehr müden Händen und blickte mich traurig über den Tisch an und meinte: »Dein Vater und deine Brüder, alle meine Kinder waren immer sehr ehrliche, aufrichtige Menschen; in einer Sache haben sie mich nur leider angelogen, über deine Gefängniszeit. Da wollten sie mir begreiflich machen, dass du im Ausland studierst. Ich wusste es besser.« Sie hörte Radio und wusste um die Veränderungen in Österreich. »Und jetzt kommst du, weil du wieder ins Gefängnis gehen wirst. Sie sagen mir nichts, aber ich weiß ganz genau, da ein großes Unglück passiert ist.« Und obwohl sie an keiner akuten Krankheit litt, ging sie zwei Tage später ganz einfach sterben. Meine Tante Rosa übersiedelte zunächst zu meinen Eltern und dann zu ihrem Sohn nach Tel Aviv.
Mein Großvater war ein sogenannter Deutsch-Freiheitlicher. Wiederholt kam er auf die Sozialdemokratie zu sprechen, der er es verübelte, dass sie ihrem Kampf gegen den Kapitalismus eine, wie er behauptete, antisemitische Note gab. Dies war darauf zurückzuführen, dass die Kapitalisten dieser Zeit sehr oft Juden waren und die ehrlichen Karikaturisten sie auch als solche dargestellt haben. Mein Großvater pflegte zu sagen: »Gott sei Dank kommen die Sozis nie ans Ruder!«
In der Familie meines Großvaters waren drei politische Richtungen vertreten. Mein Vater, Max Kreisky, war ein der Sozialdemokratie mit Sympathie gegenüberstehender Mann. Als junger Fabriksleiter hatte er an einer Demonstration für die volle Sonntagsruhe teilgenommen, weil er in seinem jugendlichen Übermut dafür war, dass der ganze Sonntag frei sein sollte – für Angestellte wohlgemerkt, von den Arbeitern war bei diesem Punkt noch lang keine Rede. So grotesk dies aus heutiger Sicht scheinen mag, damals hat man ein solches Engagement mit seinem Posten bezahlt. Mein Vater, der es in dieser Textilfabrik bereits ziemlich weit gebracht hatte, geriet daraufhin in die Nähe der sozialdemokratischen Angestelltengewerkschaft. Die Privatangestellten waren die ersten, die eine Pensionsregelung hatten, die zwar nicht überwältigend, aber immerhin ein Anfang war. Wie eng und menschlich das Verhältnis meines Vaters zu den Arbeitern war, geht daraus hervor, dass 1918 einer der Betriebsräte des Unternehmens, dem er damals vorstand, zu ihm nach Wien kam, um ihn zu bitten, sich im Namen der Arbeiter und Angestellten des Gesamtunternehmens in den Arbeiterrat wählen zu lassen. Später hat er sich in den erbitterten Kämpfen zwischen Arbeitern und Unternehmern einige Male als Schlichter zur Verfügung gestellt.
Zwei Brüder meines Vaters, der eine, Oskar Kreisky, Professor für Deutsch und Französisch, der andere, Otto, ein angesehener Advokat in Wien, waren Mitglieder einer schlagenden Verbindung gewesen, die »Budovisia« hieß, weil ihre Mitglieder aus Budweis stammten. Bei jedem sich bietenden Anlass, so schien es mir, sangen die beiden mit großer Ergriffenheit die deutschen Turn- und Studentenlieder, und ich kann heute noch viele dieser Lieder auswendig, von Burschen heraus bis zur Wacht am Rhein. In der Mittelschule wurde ich durch entsprechend deutschnationale Professoren – es gab ja nur die Wahl zwischen deutschnational und klerikal, und der eine oder andere Sozialdemokrat fühlte sich dazwischen wie das hässliche kleine Entlein