Das großelterliche Haus lag im Herzen der Stadt und direkt neben dem Rathaus, was eine gewaltige Ausnahme darstellte, denn die Juden wohnten in der Regel in eigenen Vierteln außerhalb der Stadtmauern. Die Judenstadt von Trebitsch lag auf der anderen Seite der Iglau. Oberhalb der Judenstadt lag das Schloss der Grafen Waldstein. Man musste also durch die Judenstadt zum Schloss hinauf, und ich erinnere mich sehr gut an diesen Weg, weil ich dort oben immer Tennis spielte. Eine alte Gräfin Waldstein hat mir einmal erzählt, dass ihr Vater Leute auf einem Turm postiert hatte, die ihm mitteilen mussten, wann mein Großvater sein Haus verließ. Dann hat sich der Graf aufgemacht, um ihm zufällig zu begegnen, weil er wissen wollte, wie die Kurse an der Börse in Prag notierten.
Aus Trebitsch stammt auch der berühmte Schuhkönig Bat’a, der in meiner Familie eine gewisse Rolle spielte, weil man an seinem ersten großen wirtschaftlichen Erfolg nicht ganz unbeteiligt gewesen war. Bat’a stellte damals Hausschuhe vom Fließband her; die Patschen bestanden aus einem besonderen Wollgemisch und hatten eine Ledersohle. Die Idee war völlig neu, und niemand wollte dem Bat’a das Leder für die Sohlen kreditieren.
Schließlich hat der Mann der ältesten Schwester meiner Mutter, der eine große Lederfabrik in Znaim besaß, das Material zur Verfügung gestellt. Der Schuhkönig, der später ganz Zlín beherrschte und heute überall auf der Welt Schuhfabriken besitzt, hat meinem Onkel diese Geste nie vergessen und dieses bestimmte Leder immer bei ihm bestellt.
Zlín war ein amerikanisches Wunder mitten in Mähren. Im Warenhaus der Stadt, das ebenfalls Bat’a gehörte, konnte man von der Wiege bis zum Sarg alles bestellen. In der Haupthalle hing das Flugzeug, mit dem Tomás Bat’a abgestürzt ist. Die Lehrlinge bei Bat’a wurden in Massen aus den Dörfern des Balkans geholt – man kaufte sie ihren Eltern sozusagen ab – und in riesigen Schlafsälen untergebracht. In der Früh mussten sie sehr zeitig raus und zwecks moralischer Aufrüstung in Reih und Glied singend durch die Straßen Zlíns ziehen, Gott preisend und Bat’a als seinen Propheten. Auch die Mauern der Stadt waren mit Bat’afrommen Sprüchen verziert. Wahrscheinlich gab es in Zlín keine einzige Wand, an der man ein anders lautendes oder gar kritisches Plakat hätte anbringen können.
Als ich mir im Sommer 1933 diese sonderbare Stadt etwas genauer anschauen wollte – natürlich war das Hotel, in dem ich wohnte, ein Bat’a-Hotel –, wurde ich höflich, aber energisch veranlasst, Zlín binnen 48 Stunden zu verlassen, weil ich unfreundliche Artikel über den Bat’a-Konzern geschrieben und darin die raffinierten Ausbeutungsmethoden geschildert hatte, die an den Lehrlingen praktiziert wurden. In der tschechoslowakischen Demokratie besaß der Schuhkönig Bat’a sein eigenes Königreich.
Blick auf eine versunkene Welt: Bruno Kreisky mit Onkel Rudolf Kreisky, dessen Kindern Artur und Anka und dem Leiter des böhmischen Konsumvereins auf einer Wanderung im Böhmerwald.
Mein Onkel, seine Brüder und Freunde waren leidenschaftliche Jäger, und aus uns wollte man das gleiche machen. Wir wurden also früh auf die Jagd mitgenommen. Die Ausfahrt mit kleinen Jagdwägelchen in guter Ordnung war für mich das Schönste, das Jagen selbst das am wenigsten Spannende und die Heimfahrt das Ekelhafteste. Die nassen Jagdhunde haben fürchterlich gestunken. Die kleineren Beutestücke, zum Beispiel Rebhühner, bekamen lederne Bänder um die Brust gelegt, und auf diese Weise mussten wir sie nach Hause tragen. Die langsam auskühlenden kleinen Vogelkörper, die glasigen Augen, das lässt sich in seiner ganzen Widerlichkeit gar nicht beschreiben. Noch heute habe ich eine Abneigung gegen die Jagd und esse sehr ungern Wild.
Wenn sich die Neffen und Nichten im Haus der Vorfahren in Trebitsch einfanden, klagte der Bruder meiner Mutter, Berthold, der vom Großvater das Trebitscher Unternehmen übernommen hatte, als erstes über die schlechten Zeiten. Aber jedesmal konstatierten wir Veränderungen, die auf wachsenden Wohlstand schließen ließen. Damit wir uns das Umsteigen nach Trebitsch ersparten, ließ er uns mit der Kutsche auf der Bahnstation Okrischko abholen. Aber eines Tages kam er selber mit einem Automobil vorgefahren. Aus den Ställen wurden Garagen, und jedesmal stand dort, trotz des Jammerns über die schlechten Zeiten, ein neues Automobil. Beim Abschiednehmen bekamen wir von ihm immer ein fürstliches Zehrgeld mit auf den Weg, und immer sagte er dann dasselbe: »Brav sein und sparsam!« Und wenn wir, die Neffen und Nichten, uns später begegneten, haben wir uns gleichfalls mit diesen Worten verabschiedet: »Brav sein und sparsam!« Berthold Felix ist eines sogenannten natürlichen Todes gestorben, das heißt, er hat sich bei der deutschen Okkupation der Tschechoslowakei so aufgeregt, dass er einem Herzschlag erlag – ein gnädiges Schicksal, angesichts des Endes seiner Frau, seiner drei Kinder und Enkelkinder im Gas.
Ein weiterer Bruder meiner Mutter, Julius, war der große Kavalier der Familie. Er lebte in Mödling bei Wien das Leben eines österreichischen Grandseigneurs und ging immer mit einem dicken gelben Bambusstock spazieren. Ursprünglich war er ein hoher Richter – Bezirksrichter in Schärding und später Hofrat und Vizepräsident des Handelsgerichts –, hat sich dann aber als Advokat etabliert, und zwar ausschließlich zu dem Zweck, das Vermögen seiner Verwandten zu verwalten. Er war, weil er anders nicht Richter hätte werden können, aber wohl auch aus innerer Überzeugung, Katholik geworden. Nach dem »Anschluss« blieb er relativ lange unbeachtet, bis ihn eines Tages doch das Schicksal ereilte und er eine Vorladung der Gestapo erhielt. Er wusste, was ihm bevorstand, hat seinen besten Wein aus dem Keller geholt, ein paar Freunde eingeladen, und am nächsten Tag fand ihn die Wirtschafterin tot im Bett. Die Kirche gewährte Selbstmördern damals kein kirchliches Begräbnis, aber im Hinblick auf das Ansehen, das er genossen hatte, machte der Erzbischof von Wien, Kardinal Innitzer, eine Ausnahme.
Mich hat dieser Onkel zeitlebens freundlich, aber sehr distanziert behandelt, denn er hielt mich für ein auf Irrwege geratenes Familienmitglied. Er mochte »die Roten« nun einmal nicht, die Sozialisten waren ihm, wie übrigens allen Mitgliedern der Familie Felix, höchst suspekt. Ich bezweifle, dass er sie ernsthaft gehasst hat, denn seiner ganzen Lebensart nach war der Hass ein zu mühsames Gefühl für ihm. Mit mir fand er sich offenbar ab, weil er der Auffassung war, dass man sich bei einer so alten und großen Familie nicht wundem dürfe, wenn es hin und wieder skurrile Erscheinungen gäbe. Dennoch ist das Verhältnis zwischen den Familienmitgliedern durch politische Zwistigkeiten niemals gestört worden. Es war eine Gemeinschaft von großer Harmonie und von einer Wärme, die ich noch heute nachempfinde.
Der jüngste Bruder meiner Mutter war Friedrich Felix, der Besitzer der Konservenfabrik meines Großvaters in Znaim. Auf den Ansichten von Znaim aus dem 19. Jahrhundert ist in der Mitte ein großer rauchender Schornstein zu sehen. Dieser Schornstein war der Stolz meines Großvaters, weil er das Zeichen dafür war, dass dort eine der frühen Dampfmaschinen betrieben wurde. Dieses Unternehmen, das von meinem Großvater vor mehr als einem Jahrhundert begründet worden war, ist heute in tschechischem Volkseigentum – eine Umschreibung für Konfiskation. Vom einstigen Glanz ist nichts geblieben.
Damals, zu meiner Zeit, waren die Konservenfabriken das Kernstück des Familien-Konzerns; ihre Erzeugnisse, vor allem die Znaimer Gurken, wurden nach vielen europäischen Ländern exportiert, unter anderem nach Schweden. Friedrichs Sohn, mein Cousin Herbert Felix, dem der Verkauf nach Schweden oblag und der mit einer Schwedin verheiratet war, ging sehr früh nach Schweden und hat nach dem Krieg zusammen mit seinem Schwiegervater unter dem Namen Felix eine der größten Konservenfabriken des Kontinents aufgebaut.
Herbert Felix war mir von allen Verwandten der liebste. Wir waren einander nahe wie zwei Brüder und haben uns bei jeder sich bietenden Gelegenheit getroffen. Das letztemal 1973, wenige Tage vor seinem Tode, beim Skifahren in Lech. Ein prächtiger und sehr fähiger Mann. 1958 trafen wir uns in Bad Wildungen zu einem ernsten Gespräch. Er stellte mir zum letzten Mal die Frage, ob ich bereit sei – ich war damals Staatssekretär –, in seinen Betrieb als Partner einzutreten. Es schmerzte ihn ganz offensichtlich, als ich mich definitiv für die Politik entschied. Ob dann nicht wenigstens Peter, mein Sohn, dafür zu interessieren sei, fragte er. Als auch daraus nichts wurde, eröffnete er mir, dass er das Unternehmen