Erinnerungen. Bruno Kreisky. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Bruno Kreisky
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783990402665
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Opernbesuchs meiner Eltern in deren Betten lagen und, als man sie hinaustrieb, aus Schreck sich nicht gut benahmen. Marie und Julie haben auch viel zu meiner Erziehung beigetragen; sie besaßen den gesunden Instinkt zweier junger bäuerlicher Wesen.

      Die hübsche Julie ging mit mir regelmäßig in den Park, der neben der zum Militärspital umgewandelten Mollardschule lag. Sie setzte sich immer auf dieselbe Bank und fand Kavaliere, meist sogenannte vojáks, Soldaten aus dem Spital, die rekonvaleszent waren und mittags in den Park gehen durften. Es waren meist Tschechen, und sie verstanden sich ausgezeichnet. Ich war sehr glücklich über den Anschluss, den unser Kindermädchen fand, denn so besaß ich vollkommene Freiheit in diesem Beserlpark und konnte mir meine Freunde aussuchen, ohne dass sie mir zurief, dass ich mit dem oder jenem nicht spielen dürfe. Andere kleine Bürgerkinder haben oft stark gelitten unter den ständigen Ermahnungen ihrer Aufpasserinnen, und wenn sie sie befolgten, waren sie für uns der Anlass zu sehr viel Spott. Dann liefen sie zu ihren Fräuleins, beklagten sich über uns und heulten. Das herrliche Leben im Park haben sie nie wirklich genossen.

       »Maria sitzt in der Mitte, links und rechts von ihr mein Bruder Paul und ich: zwei ausgehungerte Buben, den total unterernährten Körper in Ruderleiberln.« Ein Foto, das zum Hochzeitstag der Eltern entstand.

      Sehr viel später waren die Hausgehilfinnen die Verbündeten unserer ersten kleinen Affären. Man ging ins Kino; als besonderes Zeichen der Vertraulichkeit galt es, wenn einem die Freundin ihren Handschuh in die Tasche steckte. Ich erinnere mich noch an den strengen Blick der Köchin, die mir sagte: »Bruno, hier ist ein Damenhandschuh«, worauf ich meinte: »Na und, was ist da dabei?« »In der andern Tasche war auch ein Handschuh.« »Zwei gehören ja wohl zusammen.« »Aber es waren verschiedene.« Sie hat auf diese Art ihre Missbilligung darüber zum Ausdruck gebracht, dass ich damals im Alter von fünfzehn, sechzehn Jahren mit verschiedenen Mädchen ins Kino ging. Später, als ich im Gefängnis saß, hat sie immer irgend etwas Besonderes für mich gebacken, was mir meine Mutter dann mitbrachte.

      Dank der leidenschaftlichen Satzanalysen meines Großvaters hatte ich sehr rasch lesen gelernt. In der Schule genierte ich mich dessen, zum einen, weil das so aussah, als wolle ich meine Künste vor der ganzen Klasse demonstrieren, zum anderen, weil ich glaubte, meine Lehrerin, ein adeliges Fräulein, könnte sich bei mir überflüssig vorkommen. Fräulein Helene von Valčic und anderen meiner Lehrerinnen tat es sehr weh, als sie eines Tages das »von«, das offenbar ihre Väter als Offiziere erworben hatten, nicht mehr gebrauchen durften. In den ersten beiden Jahren meines Schullebens konnten sie es noch verwenden, dann musste es plötzlich wegbleiben. Die Deutschen haben es viel klüger gemacht und das Adelsprädikat zu einem Teil des Namens erhoben. Mich hätte das »von« in Österreich nie gestört. Wenn nur sonst dem Gleichheitsbegriff der Demokratie stärker Rechnung getragen worden wäre in der Ersten Republik.

      Zu Hause machte ich von meinen Lesefähigkeiten reichlich Gebrauch. Unsere tschechische Köchin konnte die in Fraktur gedruckten Zeitungen nicht lesen, und so musste ich ihr die wichtigsten Tagesereignisse vorlesen. Das hatte übrigens einen erfreulichen Nebeneffekt. Die Köchin und ich wurden dadurch sozusagen Komplizen, und das hat mir manche Gerichte, die ich nicht gern aß, erspart. Eines Tages hatte ich von mir aus das Bedürfnis, Marie einen Artikel vorzulesen. Ich ging in die Küche, wo sie gerade mit dem Schmirgeln des Ofens beschäftigt war. Dabei mussten wir ihr gelegentlich helfen. Die Küchenherde hatten an der Seite eine Stahlplatte, auf die man die fertigen Speisen zog; daneben war ein Stangen angebracht, auf das man die Tücher hängen konnte. Das Schmirgeln des Ofens war eine anstrengende, eintönige Beschäftigung.

      Es war am letzten Tag des Krieges, und während Marie den Ofen saubermachte, habe ich ihr den Leitartikel Das Ende des Krieges aus der Neuen Freien Presse vorgelesen. Mit siebeneinhalb Jahren ist mir das Lesen dieses furchtbar langen Artikels sicher nicht leichtgefallen. Plötzlich merkte ich, dass Marie gar nicht zuhörte. Ihr genügte die Mitteilung, dass nun der Friede gekommen sei. Ich werde nie ihre Worte vergessen, dass ich das Lesen einstellen könne: »Wer weiß, für was gut ist!« Sie hat sich vom Frieden keine sehr deutlichen Vorstellungen gemacht und verwendete eine Formulierung aus dem Wienerischen, die nicht ganz passte. Damit wollte sie ausdrücken, dass eigentlich jeder Zustand schlecht und jede Veränderung positiv sei. Ein vier Jahre dauernder Krieg mit all dem Leid, das er verursachte, wurde von vielen Menschen offenbar als etwas Unabänderliches akzeptiert.

      Weder in den Staaten, die den Krieg verloren hatten, noch bei den Siegern kam Freudenstimmung auf. Restlos glücklich war man nur in den neutralen Staaten.

      Ich habe viel gelesen in meiner Kindheit. Merkwürdigerweise nie eine Zeile von Karl May, was ich später sehr bedauert habe, da ich die Geheimsprache meiner Schulkameraden kaum verstand. Ich las auch keine für Kinder präparierten Detektivgeschichten, dafür aber sehr gerne Märchen. Am liebsten die von Andersen, dessen Hintergründigkeit ich sehr früh verstand. Die Geschichte von Des Kaisers neuen Kleidern begleitet mich heute noch. Auch Das hässliche Entlein traf meine sich behutsam entwickelnde soziale Ader. Von den Grimm’schen Märchen schätzte ich besonders Hans im Glück. Er war für mich der Inbegriff des Menschen, der immer wieder alles falsch macht. Ich erinnere mich an einen Wortwechsel im Parlament, als ich die wirtschaftlichen Erfolgszahlen meiner Regierung vorlas und irgendein bäuerlicher Abgeordneter dazwischenrief: »Glück ham’S gehabt!«, und wie ich mich unterbrach und zu ihm sagte: »Ja, Herr Abgeordneter, aber was macht der Dumme mit dem Glück?«

      Mein Interesse am Lesen war so auffällig, dass mein Vater sehr früh begann, mir Bücher zu schenken, vor allem Geschichtsbücher, und die Bücher, die ich meinem Vater schenkte – dabei ließ ich mich beraten von einem benachbarten kleinen Buchhändler, dem buckligen Herrn Ferber –, habe ich regelmäßig zunächst selber gelesen. An meinem 14. Geburtstag bekam ich von meinem Vater, als Krönung sozusagen, eine antiquarische Ausgabe der sehr teuren und kostbaren Ullstein’schen Weltgeschichte. Ich hätte zwar lieber ein Fahrrad gehabt, aber sehr bald schon liebte ich diese sechs Bände über alles, nicht wegen der langen und für mich damals schwer verständlichen Aufsätze, sondern wegen der wunderbaren Reproduktionen, von denen ich manche vorsichtig herauslöste und sie an gute Freunde weitergab.

      Stundenlang habe ich diese Bände durchgeblättert, bis ich alle Abbildungen im Kopf hatte. Ich erinnere mich noch heute, zum Beispiel an das Bild »Napoleon betrachtet den Brand von Moskau«; in diesem Prachtgemälde enthüllte sich mir die ganze Tragik des Franzosenkaisers. Vielleicht bin ich deshalb nie ein Bewunderer Napoleons geworden, obwohl er sich in meiner Familie einer gewissen Wertschätzung erfreute, vor allem, weil er die Emanzipation der Juden so energisch vorangetrieben hat. Das hat nicht nur meine Vorfahren, sondern offenbar auch die von Marx und Heine an ihm beeindruckt. Noch heute klingt mir das Heine-Gedicht Die Grenadiere im Ohr, das mir mein Onkel Oskar, der literarisch besonders interessiert war, immer wieder vorgelesen hat: »Mein Kaiser, mein Kaiser gefangen!«

      Später habe ich auch die Texte der Ullstein’schen Weltgeschichte gelesen, denn ich wollte immer dem Unterricht voraus sein, in der Klasse ging mir alles viel zu langsam. Allerdings war ich hierbei sehr wählerisch. Ich habe nicht gelesen, wie man ein Buch normalerweise liest, sondern mal hier, mal dort, und eher von hinten nach vorn. Den großartigen Aufsatz von Felix von Luschan über Rassen und Völker habe ich auch später bei vielen Gelegenheiten herangezogen. Dort heißt es an einer Stelle: »Von einem arischen Typus oder einem arischen Schädel zu sprechen, ist genau so töricht, als wenn man von einer blauäugigen oder von einer langköpfigen Sprache reden wollte. Der anatomische Begriff der Rasse und der linguistische Begriff der Sprachenfamilie dürfen nicht miteinander verwechselt werden.«

      Natürlich hat mich, so wie meine ganze Generation, das Buch Onkel Toms Hütte von Beecher-Stowe ungeheuer beeindruckt. Ich fühlte ganz mit den Schwarzen, wenngleich ich heute weiß, dass die kämpferischen Schwarzen, die sich um meinen Freund Jesse Jackson scharen, dieses Buch nicht gerade als Inbegriff der civil rights betrachten. Aber auch wenn ich erst sehr viel später erst begriffen habe, welche materiellen Hintergründe der Amerikanische Bürgerkrieg und die Befreiung der Schwarzen hatten und dass dies eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung Amerikas