DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT. Klaus Hübner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Hübner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783957658609
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      Die Dame mit dem Hütchen

      Fragen an Hiltrud und Günter Häntzschel

      Zum fünfzigsten Todestag der Dichterin haben Sie eine repräsentative und ansehnliche, dazu auch noch erschwingliche Ausgabe der Werke von Annette Kolb herausgegeben, mit akribischen Kommentaren, ausführlichen Erläuterungen, aufschlussreichen zeitgenössischen Rezensionen – kurzum: eine philologische Meisterleistung. Herzlichen Glückwunsch! – Warum ausgerechnet Annette Kolb? Ist sie nicht auch zu Recht ein bisschen vergessen?

      GH: Gleichaltrige Autorinnen wie etwa Gertrud von Le Fort, Ina Seidel oder Isolde Kurz sind heute nicht mehr oder nur schwer erträglich zu lesen. Annette Kolb dagegen in ihrer forschen, spontanen und oft witzigen Art wirkt in vielen ihrer Texte immer noch frisch und lebendig. Sie greift Themen auf, die nach wie vor aktuell sind: Völkerverständigung, die Sorge um Europa, energische Abwehr von Kriegen, Kosmopolitismus, veränderte Geschlechterrollen. Gerne provoziert sie mit für die damalige Zeit mutigen Äußerungen: »Wie die Dinge liegen, sollten Generäle vom Kriege, gar einem künftigen, nicht mehr sprechen. Denn davon verstehen sie nichts.«

      Zweifellos lassen sich Notizen wie »Wenn mir jemand sagt: ›Ich bin kein Nazi, aber …‹, dann weiß ich schon, dass er einer ist« immer bestätigend zitieren. Aber reicht das schon, um irgendeine politische Aktualität der Autorin zu begründen?

      HH: Annette Kolbs politisches Engagement lässt sich keineswegs mit ein paar Schlagwörtern umreißen. Dafür ist es viel zu eigensinnig. Wenn eine relativ junge Schriftstellerin sich 1915 in Dresden hinstellt und bei einem Vortrag den französischen, aber eben genau so heftig den deutschen Chauvinisten, vor allem der Presse, die Leviten liest, dann war das nichts Gewöhnliches. Sie wurde ausgepfiffen, sie wurde von der Polizei verfolgt, erfuhr Passentzug und Briefzensur und konnte sich gerade noch ins Exil nach Bern retten. Sie drang vor zu einflussreichen Politikern, um sich für ihre Sache, für eine deutsch-französische freundschaftliche Partnerschaft und überhaupt gegen jeden Krieg einzusetzen, sie besuchte Pazifistenkongresse, interviewte Aristide Briand, zeigte in Feuilletons in ihrem Beschwerdebuch 1932, wie bedroht die Demokratie schon war, und wandte sich 1943 aus dem amerikanischen Exil »an das deutsche Volk«.

      Oft hört man, dass dieses eigensinnige, deutsch-französische Bürgerfräulein ihres gelebten Europäertums und ihres unbedingten Pazifismus wegen allen ehrenden Gedenkens wert sei, dass man aber höchstens noch Daphne Herbst und vor allem Die Schaukel lesen könne. Alles andere sei antiquiert, sei kaum anderes als im vornehm-gestelzten Ton des kultivierten Salons gehaltenes höheres Geplauder über vergessene Nebensächlichkeiten – und habe uns kaum mehr was zu sagen. Ein Vorurteil?

      GH: Das ist wahrlich ein Vorurteil und erklärt sich wohl vor allem daraus, dass von ihren Veröffentlichungen bislang auf dem Buchmarkt lediglich die Romane zu finden waren. In unserer Ausgabe wird vieles andere Lesenswerte zu entdecken sein. Ich denke etwa an ihre in Italien spielenden ironisch-satirischen Erzählungen wie Spitzbögen oder Veder Napoli e partire, aber auch an ihre vielen Glossen, Skizzen, Essays, Gegenwartsbeobachtungen im Deutschland der 1920er- und beginnenden 1930er-Jahre, die den dynamischen und kontroversen Geist der Weimarer Republik und ihrer Kultur widerspiegeln.

      In Thomas Manns Doktor Faustus gibt es die Figur der Jeanette Scheurl, und von der heißt es, sie schreibe »in einem reizend inkorrekten Privatidiom damenhafte und originelle Gesellschaftsstudien, die des psychologischen und musikalischen Reizes nicht entbehrten«. Dieses Urteil wird meistens als zu kritisch, unzulässig verkürzend, ja als herablassend, arrogant und frauenfeindlich, auf jeden Fall als unzureichend angesehen. Aber stimmt es nicht auch? Hat nicht auch Kolbs Freund René Schickele bemerkt, dass es in ihrem Schreiben einfach »drauflos« und »über Stock und Stein« geht?

      HH: Annette Kolb war mit den Familien Pringsheim und Mann von Kindheit an befreundet. Es gab ein grundsätzliches Wohlwollen, dem Thomas Mann vielleicht zu viel zugemutet hat. Gerade in der Zeit des Exils hat Thomas Mann sie immer unterstützt; sie besuchte die Familie Mann in Princeton. Was Sie hier zitieren, ist ja gerade nicht der billige Spott über ihr Äußeres, »die mondäne Hässlichkeit«, die »Ziege« und vor allem die nebenbei eingeflossene kritische Bemerkung über Annette Kolbs Mutter, die die Dichterin schon deutlich verstimmte. René Schickeles Urteil über ihr Schreiben galt ja ganz speziell ihrer Schlussarbeit am Roman Die Schaukel, geschrieben in den verstörenden Monaten nach der Flucht aus Deutschland und in der Ungewissheit, ob er überhaupt noch erscheinen kann. Es gibt von Schickele auch durchaus begeisterte Zustimmung zu ihrer Arbeit, er schwärmt vom Exemplar als einem »fantastischen Roman«, sie ist ihm »ein Phänomen an psychologischer Hellsichtigkeit«.

      München, Annette Kolbs Geburts- und Sterbestadt, erscheint in fast jeder Phase ihres Lebens und Schreibens als schwankende Theaterbühne, auf der deutsche Geschichte gegeben wird. Ihr München ist vom proletarischen München, wie es bei Oskar Maria Graf und vielen anderen ihrer Zeitgenossen geschildert wird, meilenweit entfernt. Ob sie jemals in Untergiesing, im Westend oder in Allach war? Andererseits gibt es kluge und wundersame Passagen, etwa in Corinthen, Sultaninen, Ingwer und Zibeben. Aber hat man nicht auch bei ihrer München-Prosa immer wieder den Eindruck, hier beuge sich jemand mit Lorgnon und Spitzenhäubchen über mehr oder minder skurrile Geschehnisse?

      GH: Mit Sigi Sommer oder Oskar Maria Graf darf man Annette Kolb nicht vergleichen. Als Tochter eines bayerischen Hofgärtners und einer französischen Künstlerin hat sie einen anderen Blickwinkel. In ihren München-Romanen kritisiert sie satirisch die rückständige, morbide Hofgesellschaft im Vorkriegs-München im Spannungsfeld Bayern-Preußen und Katholizismus-Protestantismus; sie schildert die unkonventionellen Abenteuer ihrer Münchner Familie in der Zwischenkriegszeit. Nach ihrer Rückkehr aus dem amerikanischen Exil ist sie eine aufmerksame Beobachterin der Münchner Kulturszene um Erich Kästner, registriert das Nachkriegsklima in München und meldet sich im Bayrischen Rundfunk zu Wort.

      Auffällig ist, wie oft und wie intensiv Annette Kolb immer wieder über Musik geschrieben hat. Es bleibt eine ganze Menge an Bedenkenswertem. Ist sie eigentlich als Musikschriftstellerin gebührend gewürdigt worden?

      HH: Annette Kolb ist mit Musik aufgewachsen, von Musik durchdrungen. Mit siebenundneunzig Jahren so gut wie erblindet, konnte sie nur noch Klavier spielen. Ihre Urteile in Sachen Musik halten auch Kenner für gültig. Das Mozart-Buch war buchhändlerisch ihr erfolgreichstes, wurde ins Französische, Englische und argentinische Spanisch übersetzt. Weshalb wir es in unsere Ausgabe nicht aufgenommen haben? Unser Platz war begrenzt und die Mozart-Forschung ist in den letzten Jahren in einem Ausmaß angewachsen, dass sich der Liebhaber eine siebzig Jahre alte Mozart-Biografie eher auf dem Antiquariatsmarkt beschaffen kann. Ihr schönes Nachkriegsbuch über Richard Wagner und Ludwig II. ist keineswegs überholt, ebenso wie ihre Begeisterung über die Besuche bei den Salzburger Festspielen, auch wenn sie stets von den politischen Ereignissen überschattet waren.

      Am Ende ihres langen Lebens, 1964, hat Annette Kolb den in Österreich geborenen israelischen Aphoristiker und Dichter Elazar Benyoëtz kennengelernt, im Alter von siebenundneunzig Jahren hat sie sogar das junge Israel besucht. Was war das für eine Freundschaft? Warum hat sie die Strapazen einer solchen Reise auf sich genommen? Was konnte sie überhaupt noch wahrnehmen von der neuen Wirklichkeit in Palästina?

      GH: Annette Kolb hatte sich in ihrem Essay Gelobtes Land – gelobte Länder von 1950/51 selbstkritisch mit dem jüdischen Problem auseinandergesetzt und sich von dem 1948 gegründeten Staat Israel eine Lösung der »Judenfrage« versprochen. Mit Elazar Benyoëtz, den sie 1964 in München persönlich kennengelernt hatte, blieb sie bis zu ihrem Tod innig verbunden. Ihre Korrespondenz zeigt ein wachsendes Verständnis für das Judentum und erweckte in ihr den Wunsch, nach Israel zu reisen, was nach vielen Schwierigkeiten erst in ihrem Todesjahr 1967 zustande kam, als sie tatsächlich am Ende ihrer Kräfte war. Und so finden sich von diesen Eindrücken auch keine Spuren mehr in ihrem Werk.

      Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg mit der neuen Werkausgabe!

      Annette Kolb: Werke. Hrsg. im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot-Stiftung von Hiltrud und Günter Häntzschel. Mit einem