DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT. Klaus Hübner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Hübner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783957658609
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es weit entfernt. Mit seiner Ende 1914 gehaltenen Rede Unser Schweizer Standpunkt – vielleicht der einzige Spitteler-Text, den man noch halbwegs kennt – habe er »einheimischen Ruhm« erworben, seine »solide Präsenz in der deutschen Literatur« jedoch verloren. An seiner Verweigerung der Parteinahme für das hochgerüstete, kriegslüsterne und protzige Kaiserreich im Norden und seinem engagierten Plädoyer für den »richtigen neutralen, den Schweizer Standpunkt« kann das schon lange nicht mehr liegen. Woran dann? Vor allem wohl daran, dass nicht nur sein Roman Imago, erstmals 1906 in Jena erschienen und hier in ganzer, ermüdender Länge abgedruckt, hoffnungslos veraltet ist – seine Dichtungen, die im zweiten Teil des Buchs in Auszügen vorgestellt werden, sind es ebenfalls, auch wenn Peter von Matt den Olympischen Frühling (1900–1905) als »das spektakulärste Ereignis deutschsprachiger Fantasy-Literatur« zu retten sucht. Natürlich ist Xaver Z’Gilgen (1888) eine hervorragend rhythmisierte gute Erzählung, natürlich bleibt eine sprachgewaltige Reportage wie Der Gotthard (1896) spannend zu lesen, und selbstverständlich finden sich auch in diesem Auswahlband fulminante, bedenkenswerte Reden wie die über Gottfried Keller (1919) oder geistreiche Essays wie der über Die Persönlichkeit des Dichters (1892). Was Spitteler dort über den Realismus sagt – »Um ein großer Realist zu werden, muss einer tief nach innen geblickt haben« –, über den »Misserfolg«, über die »Verbitterung« oder über die »Eitelkeit«, möchte man einigen Zeitgenossen dringend zur Lektüre empfehlen. Und die politischen Eiferer von rechts sollten seinen Aufsatz Vom ›Volk‹ (1886) lesen und dann damit aufhören, »jede Zusammenrottung für Volk anzusehen und in jedem Gebrüll die Volksstimme zu hören«. Aber wer liest Essays und Reden von vorgestern? Nur sehr wenige Experten wie zum Beispiel der Zürcher Literaturwissenschaftler Philipp Theison, der in seinem luziden Nachwort plausibel herausarbeitet, weshalb Carl Spittelers Werk doch ein gewaltiges Stück hinter der literarischen Moderne zurückbleibt. Selbstverständlich plädiert Theison zugleich dafür, Spitteler »wiederzuentdecken«, um ihn »aus der Vergessenheit zu befreien«. Ob das gelingen wird, vielleicht mithilfe der vielen für 2019 angekündigten Aktivitäten und Publikationen? Eher nicht, darf man vermuten, und damit wäre Carl Spitteler in bester Gesellschaft. Aber vielleicht ja doch, wenigstens ein bisschen? Man darf gespannt sein.

      Carl Spitteler – Dichter, Denker, Redner. Eine Begegnung mit seinem Werk. Hrsg. von Stefanie Leuenberger, Philipp Theison und Peter von Matt. München / Zürich 2019: Kollektion Nagel & Kimche. 471 S.

      Ein etwas schrilles Fräulein

      Armin Strohmeyr auf den Spuren einer Dichterin zwischen den Völkern

      Spannend geschriebene und flüssig zu lesende Biografien bekannter Persönlichkeiten aus Kultur und Geschichte braucht der Buchmarkt immer. Man kann umfangreiche, jedes Detail im Leben des Helden ausspinnende biografische Romane schreiben, wie es Rainer Stach in seiner ambivalent beurteilten Kafka-Biografie versucht hat. Man kann sich sachlich und nüchtern geben und die Konturen seines Protagonisten knapp und prägnant umreißen, wie es Stefan Rebenich in seiner Biografie Theodor Mommsens getan hat, die allerdings – trotz des Lobes, das sie fast durchwegs erfahren hat – nicht ganz ohne ermüdende Erbsenzählerei auskommt. Armin Strohmeyr, 1966 geboren und durch ein treffliches Klaus-Mann-Porträt hervorgetreten, steht mit seiner interessanten und lesbaren Studie über Annette Kolb dem Mommsen-Biografen näher als dem Kafka-Nachdichter. Er hat sich im Münchner Nachlass der Schriftstellerin umgesehen, und er hat bislang Unbekanntes aus dem Bayerischen Kriegsarchiv, dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach und dem Stadtarchiv von Badenweiler zutage gefördert. Dort lebte Annette Kolb, mit Blick in die Schweiz, zehn Jahre lang neben dem Ehepaar Schickele, und auch ihre Briefe an René Schickele aus den Jahren 1920 bis 1933 hat der sachlich und unaufgeregt vorgehende Biograf gesichtet. Man muss sein detailreiches Buch loben, auch wenn es partienweise mehr eine Vermittlung wissenswerter Fakten darstellt, als uns eine unverwechselbare Persönlichkeit so vor Augen zu führen, dass wir uns deren Werken mit neu geweckter Spannung (wieder) näherten. Was man von einer Biografie vielleicht doch auch erwarten mag, zu Recht.

      Von Annette Kolb, die erst 1967 in München gestorben ist, aber – auch wenn sie das selbst nicht immer wahrhaben wollte – schon 1870 zur Welt kam, weiß man heute nicht mehr viel. Eine Auswahl- oder gar Gesamtausgabe ihrer Werke gibt es nicht. Man kennt vielleicht Daphne Herbst (1928), für Armin Strohmeyr eine Romanmixtur zwischen Buddenbrooks und Zauberberg. Noch bekannter, nicht zuletzt durch seine Verfilmung, wurde ihr Roman Die Schaukel (1934). Annette Kolb, die auch Übersetzerin war, hat noch viel mehr geschrieben in ihrem langen Leben, heute vergessene Romane wie Das Exemplar, eine Reihe ansprechender Erzählungen, populäre Musiker-Biografien, zahlreiche Essays, Feuilletons, Hörfunktexte und manch anderes, und sicherlich bleibt hier auch in Zukunft noch einiges zu entdecken. Bedeutsam ist, und ihr Biograf stellt es zu Recht in den Vordergrund, dass ihre binationale Herkunft Leben und Werk maßgeblich bestimmte. Die altbayerisch-bürgerlich, allerdings mit extravagantem Bohème-Touch aufgewachsene Tochter eines Münchner Gartenbauarchitekten und einer Pariser Pianistin war ein musikalisch und literarisch überaus begabtes Kind, das sich auf Französisch, Englisch und Italienisch ebenso verständigen konnte wie im geliebten Münchner Idiom. »Sie war katholisch und aufklärerisch zugleich, konservativ und liberal«, schreibt Strohmeyr, und dass sie eine vehemente Preußen-Hasserin war, hebt er mehrfach hervor. Europäische Prägungen zu erfahren und kosmopolitische Neigungen zu verspüren in einer Zeit, die sich anschickte, die alte Welt zu zerstören – das legte eine pazifistische Haltung nahe, und mit der machte sich Annette Kolb, ähnlich wie ihr Freund René Schickele, im Deutschland des Ersten Weltkriegs gründlich unbeliebt. Das Bayerische Kriegsministerium überwachte sie nicht nur, wie Strohmeyr detailliert belegen kann, es beschnitt ihr auch die Arbeitsmöglichkeiten. Unterstützt von Walther Rathenau emigrierte sie in die Schweiz, wo sie beim Berner Sozialistenkongress 1919 Kurt Eisner und Hugo Haase kennenlernte. Das Jahrzehnt zwischen 1923 und 1933 markiert »die Jahre, in denen sie die höchste Anerkennung bei Kritikern und Kollegen genoss und die größte Leserschaft besaß … Ihr Name wurde gleichrangig neben Thomas Mann, René Schickele, Hermann Hesse oder Stefan Zweig gestellt. Es war Annette Kolbs beste Zeit«. 1929 erschien ihre Monografie über Aristide Briand, und 1931 bekam sie den Gerhart-Hauptmann-Preis. Ein Jahr später machte die für ihre Zerstreutheit berüchtigte Zweiundsechzigjährige den Führerschein und kaufte sich ein Auto, was zu manch kuriosen und nicht ganz ungefährlichen Straßenszenen geführt haben soll. Die Hochachtung vor ihrem couragierten Wirken mindert das nicht – man sieht das immer etwas skurril wirkende Fräulein, das Thomas Mann im Doktor Faustus in der Figur der Jeannette Scheurl porträtiert hat, nach Strohmeyrs Forschungen genauer denn zuvor auch als eine eminent politische, der Völkerverständigung verpflichtete Publizistin, und parallel dazu als Frau mit einem fatalen, aber immer gut gemeinten Hang zu meist nur Verwirrung stiftender Privatdiplomatie. Die Nazis waren ihr natürlich alles andere als wohlgesonnen, und im Frühjahr 1933 musste sie ihre geliebte Heimat erneut verlassen.

      Annette Kolb reiste herum, vorwiegend in Frankreich, Österreich und Irland. Sie blieb schließlich in Paris, wurde 1936 französische Staatsbürgerin, besuchte 1937 zum letzten Mal die Salzburger Festspiele, über die sie ein erfolgreiches Buch verfassen sollte, und floh 1940/41, unter größten Schwierigkeiten, über Genf und Lissabon bis nach New York. Da war das Fräulein, das die Einsamkeit wohl kannte und schon von vielem und vielen Abschied hatte nehmen müssen, bereits im Seniorinnenalter – eine verschrobene, aber wache, streitbare und Respekt einflößende ältere Dame, deren Memento überschriebener Bericht über ihre Exilzeit »bis heute zu erschüttern vermag«, wie Strohmeyr betont. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann sie ein rastloses und umtriebiges »Exil nach dem Exil«, und erst seit 1961 lebte sie wieder in München. Annette Kolb, eine durchaus tragische Figur und zugleich ein komisches Lokaloriginal, war weiterhin literarisch, publizistisch, musikalisch und politisch aktiv. Sie hielt große Stücke auf Charles de Gaulle und bekam nicht nur für ihre Verdienste um die deutsch-französische Verständigung hohe und höchste Auszeichnungen. Und vor der Mühe einer Reise nach Israel, für das sie sich besonders nach ihrer Begegnung mit dem Schriftsteller Elazar Benyoëtz interessierte, schreckte sie noch 1967 nicht zurück. Da war sie 97. Es ist schön, dass Annette Kolbs bewegtes Leben durch Armin Strohmeyr eine würdige und seiner Bedeutung angemessene Darstellung erfahren hat.

      Armin