DERMALEINST, ANDERSWO UND ÜBERHAUPT. Klaus Hübner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Hübner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Изобразительное искусство, фотография
Год издания: 0
isbn: 9783957658609
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Taschenbuchs steht, das zwölf Meistererzählungen aus ganz unterschiedlichen Lebensphasen enthält. Eine von mehreren Neuerscheinungen zu Hebbels zweihundertstem Geburtstag. Nicht jeder Bücherfan wird unbedingt Prosa aus dem 19. Jahrhundert lesen mögen. Kann man Hebbel empfehlen?

      Das Alltagsleben, in dem seine Geschichten spielen, gibt es nicht mehr. Aber Katastrophen, große und kleine, die gibt es immer noch. Hebbel, dessen Sinn für kleinste Nuancen der deutschen Sprache außerordentlich genannt werden muss, ist ein unerbittlicher Gestalter von Tragik, Verwirrung, Zorn, Gewalt, Zerstörung und Tod. Kühn und sprachmächtig erzählt uns dieser Dichter die unglaublichsten, wildesten und abgründigsten Geschichten. Acht Seiten braucht er, und die an einem hellen Sonntagmorgen lustig vor sich hin singende junge Magd Anna ist tot, elend verbrannt in einem Flammeninferno, an dem sie, so ihre letzten Worte, selbst schuld ist. Ist sie das? »Nein, Tochter, ich bin nicht krank, ich sehe bloß voraus, wie alles kommen wird«, sagt der von obsessiven Wahnvorstellungen geprägte, unberechenbare und unheimliche Zitterlein in einer der besten Erzählungen des Bandes. »Gibt es nicht Gesichter, die mich anstarren, wie Larven der Hölle, Augen, deren feindlicher, vernichtender Strahl mich tötet? Hast du nie ein Lächeln gesehen, welches dir jede Freude, jede Lebenslust zusammenschnürte, wie eine Schlange?« Horror hoch drei, dieser Barbier Zitterlein, ebenso wie Die Kuh! Direkt lustig sind sie nicht, diese Texte. Aber sehr zu empfehlen.

      Friedrich Hebbel: Meistererzählungen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Monika Ritzer. München 2013: Deutscher Taschenbuch Verlag. 254 S.

      Der Ungelesene

      Ludwig Börne im Taschenbuch

      1837 starb Ludwig Börne im Pariser Exil. Heute gibt es Börne-Straßen und -Plätze, und ein angesehener Preis ist nach ihm benannt, immerhin. Aber der Schriftsteller selbst? Ja, die Briefe aus Paris, der zeitweise erbitterte Streit mit Heinrich Heine, abgelöst durch gemeinsamen Kampf gegen den damaligen Stuttgarter Literaturpapst Wolfgang Menzel – eine Geschichte der deutschen Literatur ohne Börne ist noch immer ein Unding. Und doch wurde er nach 1848 immer seltener gelesen. Der kämpferische Demokrat und meisterliche Stilist aus der Frankfurter Judengasse hat keine Gedichte, Dramen, Novellen oder Romane hinterlassen, sondern Essays, Reisebilder, Satiren, Theaterkritiken, Feuilletons – und oft wunderbare Briefe. Aber all das veraltet auch rasch. Nicht ohne Grund gibt es, anders als bei Zeitgenossen wie Mörike oder Chamisso, keine historisch-kritische Ausgabe seiner Werke. In den 1960er-Jahren haben Inge und Peter Rippmann eine fünfbändige Edition erarbeitet, und fast ein halbes Jahrhundert später hat Inge Rippmann daraus ein kleines Taschenbuch destilliert, das sich Das große Lesebuch nennen darf. Niemand könnte das besser als diese Expertin, und so kann man nun ganz bequem – Börne lesen. Soll man auch?

      Dass diese frühe Edelfeder des aufgeklärten politischen Journalismus und des eleganten Feuilletons, die an vielen Fronten für Freiheit, Kosmopolitismus und Judenemanzipation kämpfte, durchaus poetisch schreiben konnte, beweisen mehrere der hier versammelten Texte, zum Beispiel die Monographie der deutschen Postschnecke oder die Denkrede auf Jean Paul. Poetische Züge wird man auch in vielen Briefen an seine Freundin und Muse Jeanette Wohl entdecken. Das meiste aber ist doch so sehr seiner Entstehungszeit verhaftet, dass es zum vollendeten Lesegenuss intimer Kenntnisse des vormärzlichen Biedermeier-Europa bedarf. Die aber kann naturgemäß weder die instruktive Einleitung noch der hilfreiche Anhang vermitteln. Schwerlich wird man behaupten dürfen, dass dieses verdienstvolle Lesebuch Lust auf den ganzen Börne macht. Er liegt einfach doch schon hundertfünfundsiebzig Jahre auf dem Friedhof Père Lachaise.

      Inge Rippmann (Hrsg.): Ludwig Börne – Das große Lesebuch. Frankfurt am Main 2012: Fischer Taschenbuch Verlag. 335 S.

      Der Weltpoet aus Franken

      Vor hundertfünfzig Jahren starb Friedrich Rückert

      Weltliteratur

      In Schweinfurt ist er 1788 geboren, Rentamtmann war sein Vater. In Würzburg und Heidelberg hat er studiert, in Jena und Hanau hat er gelehrt, und später war er Professor in Erlangen und in Berlin. Ein eminenter Dichter, ein Orientalist, vor allem aber ein Sprachgenie: »Mit jeder Sprache mehr / die du erlernst, befreist / du einen bis daher / in dir gefangenen Geist.« Mit Deutschen Gedichten, darunter auch vierundsiebzig »Geharnischte Sonette«, wurde er ab 1814 bekannt, und spätere Gedichtsammlungen wie die sechsbändige Weisheit des Brahmanen (1836/39) oder der Liebesfrühling (1844) erreichten riesige Auflagen. Ja, es gab Zeiten, da wurden seine Werke eifrig gelesen und oft zitiert, und er galt als einer der ganz großen deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts. Auch heute darf man behaupten: Das stimmt! Friedrich Rückert ist ein bedeutender Poet, und im Zeitalter des globalen Austauschs zwischen den Sprachen und Kulturen ist er es vielleicht mehr denn je. Doch seine großen Zeiten sind spätestens seit dem Ersten Weltkrieg vorbei, und es ist kaum zu erwarten, dass die zahlreichen Aktivitäten rund um seinen hundertfünfzigsten Todestag – er starb am 31. Januar 1866 in Coburg – sehr viel daran ändern werden. Sicher, der umfassenden Ausstellung »Der Weltpoet: Friedrich Rückert (1788–1866) – Dichter, Orientalist, Zeitkritiker«, die in Schweinfurt gezeigt wird und später, in leicht veränderter Form, auch nach Erlangen und Coburg kommt, sind viele interessierte Besucher zu wünschen. Und die vom 2007 gestorbenen Schriftsteller und Übersetzer Hans Wollschläger zusammen mit Rudolf Kreutner begründete historisch-kritische Ausgabe seiner Werke ist natürlich zu empfehlen – ein äußerst verdienstvolles philologisches Mammutprojekt, keine Frage!

      Oft gelobt und kaum gelesen

      Doch sind nicht historisch-kritische Ausgaben immer auch tonnenschwere Grabplatten? Von Rückert, dem Viel- und vielleicht Zuvielschreiber mit einem unglaublich umfangreichen, noch immer nicht völlig erschlossenen Werk, gibt es kaum etwas, was dem heutigen Lesergeschmack entgegenkommt, keinen Roman und überhaupt kaum Prosa. Seine Formenwelt, klassisch-romantisch plus orientalisch-üppig, ist die seiner Zeit. Wer aber wird sich für den jungen Lyrikstar der Befreiungskriegsjahre interessieren? Welche von kunstsinnigen Bürgertöchtern des 19. Jahrhunderts einst auswendig hergesagten Verse kennt denn man überhaupt noch? Wird man sich mit den ergreifenden Kindertotenliedern näher befassen, bloß weil deren Vertonungen durch Gustav Mahler bis heute immer wieder aufgeführt werden – »Du bist ein Schatten am Tage / Und in der Nacht ein Licht; / Du lebst in meiner Klage / Und stirbst im Herzen nicht«? Gustav Mahler war nicht allein – auch Franz Schubert, Robert Schumann, Johannes Brahms, Franz Liszt und noch Max Reger haben manche Perle aus dem Werk des aufrechten Franken aufgespürt und musikalisch veredelt. Aber deshalb Rückerts Gedichte lesen? Sich für seine Nachdichtungen des Hafiz oder Firdusi interessieren, sich gar für seine lyrische Lieblingsform erwärmen, das Ghasel? Dafür findet sich heutzutage wohl kaum noch Publikum. Einen Orientalistik-Professor und kongenialen Kulturwissenschaftler zu studieren, der aus nicht weniger als vierundvierzig Sprachen mit siebzehn Schriftsystemen übersetzte, ist erst recht eine Beschäftigung für Spezialisten. Seufz! Aber es hilft nichts, auch sein verdienter und äußerst rühriger Schweinfurter Fanclub (www.rue⮯ckert-gesellschaft.de) wird zustimmen müssen: Friedrich Rückert im frühen 21. Jahrhundert, das ist nicht unbedingt der Hit!

      Poesie des Interkulturellen

      So ganz verständlich ist das nicht. Denn es gibt gute Gründe, diesen in zahllosen Anthologien hervorragend vertretenen Dichter nicht ins bloß Antiquarische absinken zu lassen. Sicher war er ein »Hausdichter des Biedermeier«, wie Hermann Glaser ihn in Franken – Eine deutsche Literaturlandschaft nennt. Doch ob das »Biedermeier-Etikett« auch heute noch den Zugang zu einer angemessenen Beurteilung seiner Werke verbaut, wie Richard Dove im Vorwort zu seiner verdienstvollen Ausgabe zuvor unveröffentlichter Gedichte befürchtet, scheint fraglich. Abgesehen davon – aktuelle Anlässe gäbe es auch. Was ist eigentlich momentan angesagter als eine profunde Auseinandersetzung mit »Abendland« und »Morgenland«, dem Zentralthema seines Schaffens? Oder, um noch einmal Glaser zu zitieren: »Gibt es etwas Aktuelleres als den Versuch, durch gegenseitiges Verstehen – nicht nur in politischen und sozialen Fragen – Vertrauen zu gewinnen und somit zu einem versöhnten Miteinander zu gelangen?« Diesen Versuch hat der Übersetzer und