8 Chaoskampf und Zion
In einigen Texten wird der Ansturm der Völker auf den Zion (→ Stadt) mit dem aufgewühlten Meer verglichen. In Jes 17,12–14, Ps 46,2–8 und Ps 76,5–6 sind das Tosen und Brausen des Meeres mit dem Tun der Völker parallelisiert, wobei in Jes 17,12 das eine mit dem anderen geradezu identifiziert wird. Wie einst die Wasser die Schöpfungsordnung attackierten, so greifen nun die Fremdvölker Zion an, Angriffe, die durch das Schelten Gottes (Ps 104,7; Hiob 26,11; Ps 76,7) oder das Erheben seiner Stimme (Ps 46,7) im Zuge einer Theophanie vereitelt werden. Die Deklaration des Gottes Israels als König in Ps 93,1 erinnert zwar an die Proklamation Baals aus KTU 1.2 IV,32, argumentiert aber ausschließlich in der „Stilform der behobenen Krise“ aus der Rückerinnerung (JANOWSKI 1993, 173). Der kultische Rahmen des Psalms erinnert daran, dass sowohl im Enuma Elisch als auch im Baal-Zyklus Tempel- bzw. Palastbau das eigentliche Ziel des Chaoskampfes bilden.
9 Chaoskampf und Apokalyptik
Die Übertragung des Chaoskampfmotivs auf ein zukünftiges Geschehen ist als „Metapher der ultimativen Theophanie“ bezeichnet worden (METTINGER 1985, 33). Der zur sog. „Jesaja-Apokalypse“ gehörige Passus in Jes 27,1 ähnelt dem ugaritischen Text KTU 1.5 I,1ff. (s.o.). Das Meer und die Chaosdrachen (wie z.B. Leviatan), die gewundene Schlange und Tannin repräsentieren eine widergöttliche Macht, die zwar mit den irdischen Feinden des Gottes Israels verglichen wird, hier aber eschatologische Züge annimmt (vgl. WATSON 2005, 328–332). In anderen apokalyptischen Texten wie Dan 7,2 und Offb 13,1 sind die aus dem Meer kommenden Wesen als Symboltiere für einzelne Reiche bzw. Völker gezeichnet. In Sach 14,6–9 sind Chaoskampf und der „Tag JHWHs“ als Tag des Gerichts parallelisiert.
10 Einige Beispiele der Wirkungsgeschichte
Das Chaoskampfmotiv ging ein in eine Reihe von Texten aus der Zeit des zweiten Tempels (6. Jh. v. Chr. bis 2. Jh. n. Chr.), die zum Teil aus der Qumranbibliothek stammen – besonders im Rahmen des Endzeitkampfs der Gerechten gegen Belial in Form von Anleihen an die Chaoswassermotivik (Hymnenrolle aus Qumran 1 QH 10,12–11,36; 14,22–25; vgl. auch Lk 21,25) sowie an die oben dargelegten biblischen Themenfelder (Fragmente aus Qumran 4 Q381 15,4–5, vgl. Ps 89,10–14; 4 Q416 1,11–12; 4 Q437 2,1.10; aber auch Weish 5,18–23 u.a.; vgl. ANGEL 2006, 193ff.). Wegen der Fokussierung auf die Chaoswesen ist in diesem Kontext auch vom „Chaosdrachenkampf“ die Rede. Offb 12,3–13.18 zeichnet den im endzeitlichen Kampf zu besiegenden satanischen Drachen bzw. dessen Gehilfen als ein aus dem Meer kommendes Tier (13,1ff.; vgl. Leviatan in Apokalypse Abrahams 21,6). Die Septuaginta übersetzt den hebr. Leviatan einige Male durch drakōn „Drache“ (Hiob 40,25 nach Septuaginta). Ein zweites, aus Hiob 40,15 bekanntes Wesen namens Behemot flankiert das Meerungeheuer in seiner Eigenschaft als Landmonster (im äthiopisches Henochbuch 60,7–9.24–25 fungieren beide als Instrument Gottes, um das Endgericht zu vollziehen, im 4. Buch Esra 6,49–52 und in der syrischen Baruch-Apokalypse 29,4 dienen sie der zukünftigen Speisung der Gerechten). Der Midrasch Leviticus Rabba 22,10 berichtet von dem unbändigen Hunger Leviatans und eines ihm beigesellten Vogels namens Ziz (vgl. Ps 80,14). Die Trias findet sich wieder als Opfergut des Endzeitmahls der Gerechten bis in die Bildtradition der Biblia Ambrosia, Ulm (13. Jh.; Mailand B 32 III–136; dazu SCHREINER 1981), wie auch in der aramäischen Dichtung Akdamut Millin (Worms 11. Jh.; dazu LEHNHARDT 2009, 128). In einer rabbinischen Homilien-Sammlung, der Pisiqta de Rav Kahana, ist die Jagd Behemots und Leviatans und ihr Kampf gegeneinander berichtet, der in Leviticus Rabba 13,3 als göttliches Spiel gedeutet ist (LEHNHARDT 2009, 117f.). Weitere Belege von Leviatan und Behemot finden sich im Jerusalemer Talmud (Traktate Megilla I,13, 72b, und Sanhedrin X,6, 42c) und ausführlicher im Babylonischen Talmud (Traktat Baba Batra 74b–75a). Hier erscheinen sie in weitgehend entmythologisiertem Gebrauch, da die beiden als ein von Gott unschädlich geschaffenes Paar vorgestellt sind. Die christliche Ikonographie identifizierte den Drachen u.a. mit dem Teufel sowie den Christusverfolgern bzw. dem Antichrist. Im 9./10. Jh. entstand im Rückgriff auf Offb 12,7–9 die Tradition des Erzengels Michael als Drachentöter, die bis in die Neuzeit tradiert ist (Lexikon der christlichen Ikonographie III, 258–262). Seit dem 6. Jh. ist das Motiv des Märtyrers Georg als Drachentöter in den östlichen Traditionen belegt, seit dem 12. Jh. auch in den westlichen Traditionen, schließlich seit dem 14. Jh. in Parallelisierung zu Michael (Lexikon der christlichen Ikonographie VI, 365ff. u. 383ff.). In der Moderne findet die Figur des Leviatan schließlich Eingang in die staatstheoretische Schrift des Philosophen Thomas Hobbes (1651). Die Schriftsteller Julian Green (Paris 1929), Joseph Roth (Paris 1938), Arno Schmidt (Hamburg 1949) und Paul Auster (New York 1992) gaben Romanen bzw. Erzählungen diesen Titel.
11 Literaturverzeichnis
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