Neben der diachron orientierten Exegese, die die Texte hinsichtlich ihrer Entstehung in ihre mutmaßlichen Bestandteile zerlegt und diese vor ihrem je eigenen historischen Hintergrund zu verstehen trachtet – wobei gelegentlich sowohl die Datierung der Texte und deren Zuschnitt als auch die Rekonstruktion der Geschichte strittig ist –, hat die Exegese in den vergangenen Jahrzehnten auch Impulse aus der Methodendiskussion der Literaturwissenschaften vom russischen Formalismus bis hin zu postmodernen, poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Ansätzen aufgenommen. Literaturwissenschaftlich orientierte Exegeten stehen oftmals den Ergebnissen der historisch-kritischen Exegese nicht ablehnend gegenüber – sie teilen gewöhnlich zumindest die grundlegenden Annahmen dieser Auslegungstradition – lassen sie jedoch häufig unter Berufung auf die Möglichkeit einer Analyse der Letztgestalt des Textes außer Acht. Hinter diesem Vorgehen steht nicht selten eine gewisse Müdigkeit gegenüber der Diskussion zur diachronen Entwicklung der Texte, die in vielen Fällen nicht zu eindeutigen Ergebnissen führt, sodass in der alttestamentlichen Exegese mancherorts die Klärung der Textgeschichte so viel Aufwand erfordert, dass sie die eigentliche Interpretation fast schon ersetzt. Diese problematische Situation – rein synchrone Interpretation auf der einen, eine weitgehende Beschränkung der Auslegung auf die Klärung der Textgeschichte auf der anderen Seite – verlangt nach einer Fortschreibung und Verbesserung der Methode in der diachron orientierten Exegese, die dann für einen weiten Bereich konsensfähige Ergebnisse hervorbringen könnte.
3.2 Geschichte
Die Bücher Genesis bis 2. Könige erzählen die Geschichte Israels; eine weitere Darstellung dieser Geschichte bietet die Hebräische Bibel im „Chronistischen Geschichtswerk“, den Büchern 1. Chronik, 2. Chronik, Esra und Nehemia. Während die Erzählung in 2. Könige lediglich bis zur Eroberung Jerusalems durch Nebukadnezzar reicht, geht das „Chronistische Geschichtswerk“ über diesen Zeitpunkt hinaus und berichtet auch noch die Rückkehr der Exilierten aus dem Exil und den Neubeginn im Land. Andere biblische Schriften, besonders die Prophetenbücher, enthalten ergänzende Informationen. Wie alle biblischen Bücher sind die beiden großen Geschichtswerke des AT keine „objektiven“ Geschichtsquellen, beide Darstellungen haben ein theologisches Anliegen, das über die Darstellung der Fakten klar hinausgeht. Dennoch sind die biblischen Darstellungen der Geschichte Israels für eine Rekonstruktion dieser Geschichte auch jenseits des ideologischen Rahmens dieser beiden Darstellungen unverzichtbar. Die archäologischen Zeugnisse beginnen erst durch die Texte zu sprechen. Zwar gibt es auch außerbiblische Quellentexte zur Geschichte Israels, doch sind diese, sofern sie in den Nachbarkulturen entstanden sind, nicht sonderlich zahlreich. Das antike Israel war keine wichtige Großmacht, mit der die anderen Großmächte der Zeit sich kontinuierlich befasst hätten. Wo uns dennoch entsprechende Zeugnisse überliefert sind, gilt auch für diese, dass sie keine Objektivität anstrebten, vielmehr sind auch diese Textzeugnisse der Nachbarkulturen ideologisch geprägt. Die außerbiblischen Textzeugnisse aus dem Land selber müssen als eher spärlich bezeichnet werden, das „Handbuch der althebräischen Epigraphik“ bietet letztlich nicht viel mehr als 30 Seiten althebräischer Texte aus dem Land der Bibel. Darüber hinaus gestatten diese Texte – zumeist handelt es sich um kurze Texte, die auf Tonscherben oder Kalksteinstücke geschrieben sind (sogenannte Ostraka) und die kurze Kommunikationen in Briefform bieten – keinen weiten Überblick, sondern gewähren nur blitzlichtartige Einblicke in eine Geschichte, die man bereits kennen muss, um die Textzeugnisse einordnen und verstehen zu können. Dennoch lässt sich aus der Summe der unterschiedlichen Quellen ein Bild der Geschichte Israels zeichnen, das zwar nicht überall gleich detailliert ist, das auch nicht in allen Punkten in der alttestamentlichen Wissenschaft unangefochten akzeptiert wird, das aber in den wichtigsten Grunddaten nachgezeichnet werden kann.
Die früheste Erwähnung einer Größe „Israel“ findet sich in einer außerbiblischen Textquelle in Ägypten. Auf einer Siegesstele des Königs Merenptah (1211–1203; in älteren Publikationen auch Mernephta genannt) wird „Israel“ neben anderen Völkern in Palästina als völlig zerstört und ausgerottet erwähnt (WEIPPERT 2010, 170). Offenbar war diese Einschätzung des Merenptah nicht ganz zutreffend, denn in der folgenden Zeit findet sich unter den Staaten, die das Gebiet zwischen den beiden Großreichsterritorien der Bronze- und Eisenzeit im Nahen Osten, Mesopotamien und Ägypten, besiedeln, eben auch dieses Israel. Entstanden in der Eisenzeit, nach der eigenen Ursprungslegende nicht autochthon, vielmehr in das Land eingewandert nach einer Phase der Siedlung in Ägypten, gründet das Volk „Israel“ im Gebiet zwischen Totem Meer und dem Negev im Süden und dem Gebiet nördlich des Hule-Sees im Norden einen eigenen Staat. „Von Dan bis Beerscheba“ lautet die biblische Beschreibung des eigenen Territoriums. Dieser Staat hat die für die Epoche und die Region nicht ungewöhnliche Form einer Monarchie. Die Zeit, in der dieser Staat entstanden sein soll, ist geprägt durch eine Umbruchsituation: Die Dominanz Ägyptens in der Region, die durch die gesamte Bronzezeit hindurch fast durchgehend bestand, gerät ins Wanken und ist im Abnehmen begriffen. Um 1200 v. Chr. kommen neue Bevölkerungsgruppen, die „Seevölker“, in die südliche Levante, um dort zu siedeln, was die ansässige Bevölkerung erfolglos zu verhindern versucht. Neben Wanderungsbewegungen im Mittelmeerraum löst diese Situation eine Abnahme der Bedeutung Ägyptens für die Region aus. Der Schwerpunkt der politischen und militärischen Entwicklung verlagert sich ins Zweistromland (ALT 1944). Dort erstarken zuerst die Assyrer in Nordmesopotamien, die jedoch später die Vorherrschaft an die Neubabylonier abgeben müssen. In einer Zeit des Übergangs, der ungeklärten Machtzentren, können sich in Palästina-Syrien kleinere, aber doch unabhängige staatliche Gebilde etablieren. Neben Israel sind das im Ostjordanland die Edomiter, Ammoniter und Moabiter, an der Küste die Philister (auf die der Name „Palästina“ zurückgeht) und die Phönizier sowie im Norden das Aramäerreich mit dem Zentrum Damaskus.
Die Zeit, in der Israel einen einheitlichen Staat gebildet haben soll, an der Wende vom zweiten zum ersten Jahrtausend, die Zeit also unter den Königen David und Salomo, diese Zeit verschwimmt vor dem Blick des Historikers im Legendarischen – was nicht heißt, dass es eine solche Zeit nicht gegeben haben könnte. Man wird allerdings auch nach dem Fund einer Inschrift in Tell Dan, die zumindest die Existenz einer davidischen Dynastie belegt, mit einer direkten Rekonstruktion dieser Zeit aus den Bibeltexten vorsichtig sein müssen.
Nach Salomos Tod, so stellt es der biblische Bericht in 1 Kön 12 dar, zerfällt dieses Reich in das Nordreich Israel mit der Hauptstadt Samaria und dem wichtigsten Kultort Bet-El und in das Südreich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem. Die Geschichte des Nordreiches ist geprägt durch wechselnde Herrscherhäuser und eine lange Reihe teils blutiger Umstürze. Die Assyrer bereiten diesem Staat im Jahr 722 v. Chr. den Untergang. Die Bevölkerung des Nordreiches wird – sofern ihr nicht die Flucht in das Südreich gelingt – deportiert und damit in alle Winde verstreut, während im Gebiet des früheren Staates „Israel“ nach biblischer Darstellung eine „neue“ Bevölkerung aus einem anderen Teil des assyrischen Reiches angesiedelt wird.
Im Südreich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem, die zugleich den wichtigsten Tempel dieses Landesteiles enthält und somit politisches und religiöses Zentrum zugleich ist, etabliert sich eine einzige Dynastie, die sich in der familiären Sukzession des Königs David versteht. Dieses „Haus Davids“ behält dort die Macht während der verschiedenen Stadien der Vasallität, d.h. der Abhängigkeit vom neubabylonischen Reich, das nach dem Niedergang der Assyrer deren politische und militärische Nachfolge angetreten hatte. Wie bei den Assyrern führt auch bei den Neubabyloniern die Politik der wirtschaftlichen Ausbeutung und stufenweisen Kolonisierung letztlich zu einer Einverleibung der Kleinstaaten der Region nunmehr in das babylonische Reich. Den Staat Juda und seine Hauptstadt Jerusalem ereilt dieses Schicksal 587/6 v. Chr. Wie schon der erste Feldzug Nebukadnezzars gegen Jerusalem zehn Jahre zuvor, so endet auch dieser zweite mit einer Deportation. Diesmal wenden sich diejenigen, die flüchten können, nach Ägypten. Anders als die Assyrer deportieren die Neubabylonier jedoch lediglich die Oberschicht des unterworfenen Landes – zu der besonders auch hochqualifizierte Handwerker zählen – in ihre Hauptstadt, in der sie die unterschiedlichen Fachleute für ihre eigenen Zwecke ansiedeln; und sie verzichten darauf, das eroberte