Die biblischen Texte legen nahe, dass vor allem in jüngerer, exilischer und nachexilischer Zeit gewisse Ritualpraktiken aus dem Bereich der Trauerund Schuldbewältigung bzw. Entsühnung mit der Umkehrthematik verbunden wurden. Beispielsweise werden in 2 Chr 7,14 Gebet und Demutsbekundung mit Gottessuche und Umkehr assoziiert. Als konkrete Rituale der Demutsbekundung, ob kollektiv oder individuell, finden das Klagen (→ Klage) und Fasten am häufigsten Erwähnung (vgl. 1 Kön 21,27; Jes 58,5; Dan 9,3; Joel 2,12; Jona 3,5). Das Untertauchen in Wasser, herkömmlicherweise ein Akt ritueller Waschung, ist alttestamentlich noch nicht als Umkehrritual bezeugt (vgl. dann die Bedeutung der Taufe in neutestamentlichen Texten, z.B. Mk 1,4; Mt 3,11; Lk 3,3).
2 Gott
Die bisherigen Ausführungen legen bereits nahe, dass nach alttestamentlicher Vorstellung für eine gelingende Umkehr zu Gott die wohlwollende Zuwendung Gottes zu den Menschen, ob zu einem Individuum oder einem Kollektiv, unabdingbar ist. Auch Gott kann sich abwenden, wobei die Abkehr in diesem Fall nicht moralisch-negativ ein „Abfallen“ bedeutet, sondern für die menschliche Erfahrung der Gottverlassenheit bzw. eines Daseins ohne segensvolle Zuwendung Gottes steht. Es ist daher naheliegend, dass in Klagepsalmen der Ruf geäußert wird, JHWH möge umkehren (vgl. auf die Not einer Einzelperson bezogen Ps 6,5; auf eine kollektive Not bezogen Ps 80,15; 85,5; 90,13).
Von der Zu- oder Abwendung Gottes kann im AT durchaus auch ohne explizite Verwendung der Umkehr-Metapher die Rede sein. Zahlreiche Texte bringen die Erfahrung der Abwesenheit Gottes – theologisch erklärend – mit seinem Zorn über menschliche Vergehen in einen Zusammenhang (→ Zorn Gottes; für eine Verschränkung mit der Umkehr-Metapher vgl. Ps 6; 85; Jona 3,9). Wie in Klgl 3,43f. formuliert, lässt sich der Zorn mit Wolken vergleichen, die JHWH verhüllen und ihn von Gebeten abschirmen. Eine weitere Möglichkeit, auf die segensvolle Zu- oder unheilvolle Abwendung Gottes zu verweisen, stellt die Rede vom „Gesicht JHWHs“ dar (→ Angesicht Gottes): Es kann vor jemandem verborgen sein (vgl. Hiob 13,24; Ps 13,2; 27,9; 30,8; 88,15; 104,29; Jes 8,17; Mi 3,4; Tob 13,6) oder aber über jemandem leuchten (vgl. Num 6,25; Ps 31,17; 67,2; 80; 119,135). An die Erwartung geknüpft, dass Gott bei einem intakten Beziehungsverhältnis Betenden zuhört und antwortet, können Klagende darum bitten, Gott möge ihnen sein Ohr zuwenden (vgl. Ps 17,6; 31,3; 71,2; 86,1; 102,3; Jes 37,17), er solle nicht schweigen (vgl. Ps 28,1; 35,22; 83,2) und nicht schlafen (vgl. Ps 35,23; 44,24). Gewisse Texte verschränken die Rede von der Umkehr Gottes mit bundestheologischen Überlegungen (→ Bund). Beispielsweise beschreibt Ex 2,23–25, wie sich JHWH seinem Volk zuwendet, da er sich an den Bund erinnert, den er mit ihm als selbstverpflichtende Zusage seiner Zuwendung geschlossen hat. Andere Texte handeln davon, wie sich Gott bereit erklärt, einen Bund zu schließen, um sich künftig nicht mehr von ihm abzuwenden (vgl. Jer 32,40). Ohne explizit von Um- oder Abkehr zu sprechen, formuliert Gen 9,9–11 (vgl. bereits 8,21–22) Gottes Bundesschluss mit allen irdischen Geschöpfen. Sinngemäß geht es auch hier um seine Selbstverpflichtung im Rahmen der Umkehrthematik: Nachdem er die Lebewesen auf der Erde der Flut preisgegeben hat, will er sich nie mehr in dieser Weise von ihnen abwenden. Obwohl die Abkehr Gottes im Beziehungsgefüge Gott – Mensch in der Regel als gerechtfertigt gedeutet wird (z.B. in Rückgriff auf das Zornesmotiv), gibt es auch Texte, die sein Abwenden problematisieren. Zumindest rhetorisch erhebt z.B. Ps 44 den Vorwurf, Gott – und nicht die menschliche Seite – verhalte sich als Bundespartner treulos (vgl. 44,18: „Das alles ist über uns gekommen, und doch haben wir dich nicht vergessen, uns von deinem Bund nicht treulos abgewandt“). Durch sein Durchgreifen, so die textpragmatische Pointe, mag Gott beweisen, dass dem nicht so ist. In Ps 88,15 fordert die leidende Person JHWH zu einer Erklärung auf, warum er sein Gesicht vor ihr verbirgt und sie verwirft. Deutlich weiter geht das Hiobbuch, wenn es seinen Protagonisten das Fazit ziehen lässt, die Erde sei der Gewalt eines Verbrechers ausgeliefert (Hiob 9,24).
Die Vorstellung und damit auch das literarische Motiv, dass sich eine Gottheit mit günstigen Konsequenzen zu- und mit ungünstigen Konsequenzen abwendet, findet sich über den gesamten Alten Orient verbreitet. Wie in der Hebräischen Bibel wird es insbesondere in Gebeten aufgegriffen. So lautet eine Passage aus einem neuassyrischen Handerhebungsgebet an Gott Nergal (HECKER 1989, 774): „Zornige Abwendung des Gottes und der Göttin ist mir geworden, Abgang und Verluste sind in meinem Hause entstanden. Zu sprechen, ohne gehört zu werden, hat mich schlaflos gemacht.“ Der Frage, wie eine Gottheit, die im Zorn ihren angestammten Ort verlassen hat, von ihren göttlichen Gefährtinnen und Gefährten zur Rückkehr bewegt werden kann, um die negativen Konsequenzen ihres Weggangs aufzuheben, widmen sich verschiedene mythologische Texte, z.B. der hethitische Telipinu-Mythos (ÜNAL 1994, 815–821) oder der ägyptische „Mythos vom Sonnenauge“ (LOPRIENO 1995). Eine solche explizit an polytheistische Vorstellungen gebundene Motiventfaltung fehlt in biblischen Texten.
Aufgegriffen wird hingegen eine geschichtstheologische Verwendung des Motivs, die in verschiedenen assyrischen und babylonischen Königsinschriften anzutreffen ist (vgl. EHRING 2007). So erklären etwa die Babylon-Inschriften Asarhaddons (BORGER 1956, 10–29) und die sog. Babylon-Stele Nabonids (BORGER 1984, 407) die Zerstörung von Heiligtümern und deren Wiederaufbau in Rückgriff auf die Vorstellung, dass Gottheiten aus Zorn über Missstände ihren irdischen Wohnort, den Tempel, verlassen und ihn bewusst der Zer störung preisgeben konnten, um zu gegebener Zeit wieder prunk- und machtvoll dahin zurückzukehren. In der Regel beanspruchte ein neuer Herrscher diese Ära für sich und verband damit die Erneuerung von Heiligtum und Kultbild. Deutliche Motivanklänge hierzu finden sich biblisch in Prophetentexten aus exilisch-nachexilischer Epoche (vgl. Jes 40,1–11; 52,7–10; Ez 10–11; 43). Einmal mehr (vgl. die Ausführungen zum ersten Motivkomplex) geht es um Texte, die sich mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels auseinandersetzen, wobei nun aber die Bedeutung des Tempels als Wohnort JHWHs in den Vordergrund gerückt wird. Analog zu den mesopotamischen Königsinschriften deuten diese Texte die Tempelzerstörung als bewusste Preisgabe – JHWH hat seinen irdischen Wohnort verlassen –, die wiederum auf eine Ära der Rückkehr JHWHs hoffen lässt. Die historische Situation Judäas prägte mit, wie sich diese Ära imaginieren und beschreiben ließ: Da Judäa kein eigenständiges Königreich mehr war, konnten unterschiedliche Figuren – gar Kyros, der König des persischen Großreichs (vgl. 2 Chr 36,23; Esra 1,2; Jes 44,28) – zu Wegbereitern dieser Ära ernannt werden. Des Weiteren ließ sich nicht nur die Vorstellung der Rückkehr JHWHs programmatisch mit einer Rückkehr der exilierten judäischen Bevölkerung nach Judäa verschränken, sondern auch das Projekt des Wiederaufbaus des Heiligtums mit jenem einer Restitution des Gemeinwesens.
3 Fremde
Vorweg ist festzuhalten, dass nicht von Konversion oder Religionsübertritt im heutigen Sinn gesprochen werden kann, wenn alttestamentliche Texte die Zuwendung Fremder zum Gott Israels thematisieren. Zum einen begann sich eine gesellschaftliche Ausdifferenzierung des Religiösen erst anzubahnen; religiöse Vorstellungen und Praktiken waren herkömmlicherweise essentieller Teil der primär ethnisch geprägten Weltanschauung und Lebensführung. Zum anderen ist der literarische Charakter der Rede von der Zuwendung Fremder zu JHWH zu beachten. Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass sich das Motiv beispielsweise aufgreifen ließ, um die Bedeutung und Wirkmächtigkeit JHWHs zu unterstreichen, die ihn als „wahren/lebendigen Gott“ bzw. als „wahren König“ auszeichnet (→ König, Gott als König).
Gleich mehrere Beispiele für letzteres