5 Der alte Mensch bei Kohelet
Kohelets Gedicht über Alter und Tod definiert das Lebensalter jenseits der Jugend als „Tage des Bösen“ bzw. als „Jahre, an denen man keinen Gefallen“ hat (Koh 12,2–4). Die letzte Lebensphase sei bestimmt vom Zittern der Hände („die Wächter des Hauses zittern“), Krumm- und Schwachwerden der Beine („die starken Männer krümmen sich“), Ausfallen der Zähne („die Müllerinnen hören auf, denn sie sind wenige geworden“), das Erlöschen des Augenlichts („dunkel werden, die auf die Gasse sehen“) und die Ohren ertauben („die Tore zur Gasse werden geschlossen“). Der Tod stellt dabei nicht ein absolutes Ende für das Individuum dar, vielmehr ist er – ganz im Sinne der Kreisläufe in der Natur bei Kohelet – ein Übergang (SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER 2004, 535–540; vgl. auch die Bezeichnung des Alters bei Homer, Ilias XXIV, 487, als „traurige Schwelle“). Die Relativierung des Alters begegnet bei Kohelet schon in 4,13: „Ein Kind, arm aber weise, ist besser als ein König, alt, aber dumm.“ Damit wendet Kohelet sich gegen die traditionelle Vorstellung der Weisheit Israels, die Alter mit Weisheit und Jugend mit Unerfahrenheit verbindet.
6 Literatur
LIESS, Kathrin (2008): Sättigung mit langem Leben. Vergänglichkeit, Lebenszeit und Alter in den Psalmen 90–92, in: M. Bauks, K. Liess, P. Riede (Hrsg.): Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst? (Psalm 8,5). Aspekte einer theologischen Anthropologie, Festschrift B. Janowski, Neukirchen-Vluyn, 329–342.
LIESS, Kathrin (2009): „Der Glanz der Alten ist ihr graues Haar“. Zur Alterstopik in der alttestamentlichen und apokryphen Weisheitsliteratur, in: D. Elm, T. Fitzon, K. Liess, S. Linden (Hrsg.): Alterstopoi. Das Wissen von den Lebensaltern in Theologie, Literatur und Kunst, Berlin/New York, 19–48.
LIESS, Kathrin (2012): „Jung bin ich gewesen und alt geworden“. Lebenszeit und Alter in den Psalmen, in: T. Fitzon, S. Linden, K. Liess, D. Elm (Hrsg.): Alterszäsuren. Zeit und Lebensalter in Literatur, Theologie und Geschichte, Berlin/New York, 131–170.
SCHWIENHORST-SCHÖNBERGER, Ludger (2004): Kohelet. Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament, Freiburg i.Br./Basel/Wien.
Andreas Kunz-Lübcke
Angesicht Gottes
Das Gesicht einer Person ist als Motiv vorrangig in der bildenden Kunst gegenwärtig. Dort wird im Genre des Porträts die individuelle Physiognomie zum Ort der Reflexion über das Wesen und die spezifische Rolle eines Menschen sowie die Art und Weise, in der er oder sie diese Rolle ausfüllt. Das Gesicht kann, zumindest in westlichen Kulturen, die Person insgesamt repräsentieren.
Die Bedeutung des Gesichtes für die Wahrnehmung von individuellen Personen hat eine entwicklungspsychologische Dimension: Kinder durchlaufen in ihrer Entwicklung eine Ausdifferenzierung in der Wahrnehmung von Gesichtern, die mit der sozialen Entwicklung des Kindes verbunden ist. Das reaktive Lächeln des Säuglings, das den Beginn der sozialen Interaktion darstellt, benötigt anfangs lediglich ein undifferenziertes Oval als Auslöser. Innerhalb weniger Monate werden die Bezugspersonen, auf die das → Kind lächelnd reagiert, immer exakter wahrgenommen. Das Kind bildet so, parallel zur Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeit, eine grundsätzliche Disposition zur Bindung an konkrete Personen aus.
Vor dem Hintergrund dieser psychosozialen Bedeutung des Gesichtes erhält das Motiv des Angesichts Gottes in den Texten des AT eine Bedeutungstiefe, die punktuell über die zufällige Bedeutungszuschreibung einer einzelnen Kultur hinausreicht. Wenn alttestamentliche Texte vom Angesicht Gottes sprechen, so bedienen sie sich allerdings der Bilder und Vorstellungen, die in der Kultur des antiken Israel vorhanden waren.
Der hebräische Begriff pānîm bezeichnet die „Vorderseite“ von etwas oder jemandem. Bei einer personalen Größe, sei sie Mensch oder Gott, ist dies das „Gesicht“ oder „Angesicht“. Damit ist zugleich Kontaktaufnahme konnotiert wie eine gewisse Distanz (linguistisch: Konfrontation), die sich durch das räumliche Gegenüberstehen ergibt. Von „Angesicht zu Angesicht“ wird also Nähe ebenso erfahren wie Abstand (JENNI 1992, 231). In inhaltlich abgeschwächter Form wird das Wort in Verbindung mit der einfachen Präposition lamed verwendet; li nê bedeutet „vor“ oder „bevor“ im räumlichen wie im zeitlichen Sinne. Diese präpositionalen Verwendungen sind für das Verständnis des Motivs nicht durchgängig von Belang.
1 Das Angesicht Gottes
Dort wo im AT das Substantiv auf JHWH bezogen vorkommt, dient das „Angesicht“ zum Ausdruck wichtiger theologischer Sachverhalte. In verschiedenen Kontexten evoziert der Begriff JHWHs Gegenwart, den Zugang zu ihm sowie göttliche Handlungen, die auf Menschen gerichtet sind, wie das Erweisen von Schutz und Gnade (z.B. Ps 31,21) sowie den Vollzug von Gerechtigkeit und Rettung in den Rollen des göttlichen Kriegers und des thronenden Königs (z.B. Ps 42,6.12; 43,1; 44,4; → König, Gott als König). Besonders eindrücklich wird – auch im Hinblick auf die eingangs erwähnte psychosoziale Bedeutung des Gesichtes – in Num 6,24–26 das „Angesicht Gottes“ motivisch eingesetzt, um die positive Wirkung des Göttlichen auf Menschen in Form des Segens zu thematisieren: „JHWH segne dich und behüte dich. JHWH lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig. JHWH erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden“ (vgl. auch Ps 67).
Die Begegnung mit dem Göttlichen wird dabei im AT wie eine Audienz bei einem Herrscher oder einer anderen hochrangigen Person dargestellt (wie schon NÖTSCHER 1924 bemerkte). Ausdrücke wie „das Angesicht suchen“ (biqqeš pānîm, 1 Kön 10,24; Spr 29,26; Ps 24,6; 27,8; 105,4) oder „das Angesicht schauen“ (raʾāh bzw. ḥazāh pānîm, 2 Sam 3,13; 14,24.28.32; Ps 11,7; 17,15; 42,3) werden sowohl verwendet, wenn jemand in die Sphäre des Königs, als auch wenn jemand in die Sphäre JHWHs in seinem Tempel gelangt. Vergleichbare Sprachkonventionen sind auch sonst im Alten Orient bezeugt, z.B. in den akkadisch verfassten Amarnabriefen (14. Jh. v. Chr.) oder in den Korrespondenzen der neuassyrischen Könige des ersten Jahrtausends v. Chr. (NÖTSCHER 1924, 77–79; HARTENSTEIN 2008, 53–58.149–161).
2 Verwendung in kultischen Zusammenhängen
Es ist bezeichnend, dass sich die meisten Vorkommen des Motivs des Angesichts JHWHs innerhalb der Hebräischen Bibel und die größte Variationsbreite bei den Ausdrücken in den Psalmen finden. Offensichtlich ist dieses Motiv eng mit der Kultsymbolik des ersten und zweiten Tempels verbunden. Auch wenn sowohl für das akkadische pānu(m) wie für das hebräische pānîm schwer zu entscheiden ist, ob „Angesicht“ in Wendungen wie ina pān(i) oder li nê stets idiomatisch zu verstehen ist (OPPENHEIM 1941), unterstreicht doch die häufige Verwendung von li nê JHWH in der Priesterschrift des Pentateuchs die Beziehung des Motivs vom Angesicht Gottes zu kultisch orientiertem räumlichem Denken (die Verwendung findet sich im Zusammenhang des idealen Wüstenheiligtums, des ʾohæl môʿeḏ, des „Zeltes der Begegnung“,