Vor dem Hintergrund dieser Betonrippen richtete die deutsche Botschaft dann im Sommer unter freiem Himmel das obligatorische Public Viewing der Fußballeuropameisterschaft aus. Dem bierseligen, von Stromausfällen durchbrochenen deutschen Sieg im Halbfinale ausgerechnet über die Türkei war die dankbare Jugend Prištinas nicht minder gewogen als zuvor den Geigern aus der Schweiz.
Die Straße, der Aidan folgte, eröffnete zum ersten Mal diese drei Höhepunkte architektonischer Augenweide in ihrer ganzen Scheußlichkeit: das Hochhaus mit dem Peja-Bier, das Stadion und das Kulturzentrum. Ich war über mich selbst überrascht, daß dieser beklagenswerte Anblick meiner hervorragenden Stimmung mitnichten abträglich war. Im Gegenteil, ich fand ihn kurios und auf besondere Weise anziehend.
Rasch und unbewußt nahm ich von diesem Moment an angesichts des noch im Vergleich mit der traurigsten mitteldeutschen Plattenbausiedlung beklagenswerten Anblicks Prištinas gleichsam instinktiv die Haltung des Zynismus ein. Dieser Zynismus wurde mir und vielen meiner Kollegen über die Monate hinweg zur zweiten Natur und erlaubte es mir, auch noch den größten staatspolitischen Unfug, den zu verhindern ich die Macht nicht hatte, hinzunehmen, ohne darüber sogleich in Verzweiflung zu geraten. Es ist eine Haltung, für die ich mich im nachhinein schäme, und nur das Schreiben ermöglicht mir, den Aufenthalt im Kosovo ohne Verhärmung zu überstehen. Es ist ja nicht mein Land, sagte der Zynismus in mir, als ich zum ersten Mal auf Priština blickte, und dann hörte ich es immer wieder, wenn mir etwas im Grunde Unerträgliches unterkam: Es ist ja nicht mein Land. Und so entschloß ich mich, auch traurige und aufwühlende Umstände in einem Lichte zu betrachten, das sie einfach nur unterhaltsam, kurios oder intellektuell anregend erscheinen ließ.
Aidan steuerte den Wagen einen Hügel hinan. Das war Dragodan, das Diplomatenviertel. Der Weg war weniger befahren als die Straßen im Zentrum, hieß Street Ahmed Krasniqi und führte über einen kurzen, erst spärlich bebauten Höhenzug zu dem sogenannten Blue Building, meiner zukünftigen Wirkungsstätte, Heimstatt des International Civilian Office, kurz ICO. Die Erhebung erlaubte wiederum, diesmal aus entgegengesetzter Richtung, einen weiten Blick über die gesamte Stadt und – gottlob – bis in die Ferne zu den schneebedeckten Bergen der Šar Planina weit im Süden. Der höchste von hier aus zu sehende Gipfel hieß Ljuboten. Dies war der Blick aus meinem Büro. Da ich die Berge liebe, erfreuten mich die Leichtigkeit und der Kontrast immer wieder, wenn ich mit einer winzigen Bewegung meiner Augen den Blick von meinem Rechner hinweg über die Ebene und ihre steinerne Unwürde kläglichen Menschentums über das Amselfeld hinweg in die unberührte, zeitlose Erhabenheit des Ljuboten erheben konnte. Er war gleichmäßig wie eine Pyramide geformt und ragte mit seinen knapp zweitausendfünfhundert Metern ehrfurchtgebietend in den Himmel. Gut war die horizontal wie mit Lineal gezogene Baumgrenze zu erkennen, oberhalb derer nur noch das Grau des Gesteins und das Weiß von Eis und Schnee zu sehen waren.
Auf der meinem Büro gegenüberliegenden Straßenseite jedoch sollte im Frühsommer ein Bauvorhaben beginnen, das in der ortsüblichen Vorgehensweise als Betonskelett gegossen und dann stockweise mit Ziegelsteinen ausgefüllt wurde. Es versprach, ein weiteres Monstrum an Geschmacklosigkeit zu werden, wuchs langsam Stock um Stock. Mit auf dem Gebäude errichteten Seilwinden wurden per Hand immer neue Paletten der importierten roten Backsteine auf die jeweils oberste Betonplattform gehievt. Anstelle von Baukränen gab es nur diese mittelalterliche Methode. Gelegentlich fielen einige dieser Steine, etwas Schutt oder auch einmal ein Balken hinab, und bei einer solchen Gelegenheit wurde ein Bauarbeiter vor meinen Augen erschlagen. Das Gebäude aber wuchs unbeirrt weiter, und bald schon war dank der anschwellenden Sichtbarriere nur mehr die entfernter gelegene Hälfte der Stadt zu erblicken. Ich beschloß in diesem Sommer, meine Zeit im Kosovo exakt dann als beendet zu betrachten, wenn schließlich der Ljuboten hinter diesem monströsen Blickfang versunken sein würde. Dann, spätestens, wäre es Zeit zu gehen.
Bis dahin aber war es noch lange hin, denn soeben betrat ich das blaue Bürohaus zum allerersten Mal. Wir erreichten die Sicherheitsschleuse, die als Öffnung mitsamt einem kleinen Wachhäuschen zwischen die Betonelemente eingelassen war. Die Sicherheitsleute waren Ortskräfte und begrüßten Aidan auf Skip, der Sprache der Albaner. Shqip bedeutet deutlich oder klar, und der Skipetar ist im Albanischen derjenige, der – ursprünglich im Unterschied zu dem türkischen Fremdling – verständlich spricht, also nicht gänzlich verschieden von der Wortbedeutung des althochdeutschen diutisc, aus dem das verständliche teutsch und schließlich eben deutsch wurde. Immer und überall ist der Fremdsprachige der Barbar.
Interessiert und freundlich blickten die Wachmänner durch die herabgelassenen Autofenster hindurch auf mich, den wie jeden Neuankömmling mit gewisser Spannung Erwarteten. Die erste der beiden Schranken schloß sich hinter dem Wagen. Bevor die zweite sich vor dem Kühlergrill hob, um uns passieren zu lassen, vollzog sich ein Ritual, das vor jedem geschützten Gebäude im Kosovo an jedem einfahrenden Fahrzeug immer in derselben Manier vorgenommen wurde: Ein Sicherheitsmann umrundete das zu untersuchende Gefährt mit einem an einer Art Besenstil auf Rollen angebrachten Spiegel. Den Spiegel rollte er an mehreren Stellen unter den Fahrzeugboden, um nachzusehen, ob dort etwa ein Sprengkörper angebracht sei. Der Sinn dieser Maßnahme stand außer Zweifel, derartige Sprengstoffanschläge waren aus sämtlichen Krisenregionen bekannt. Jedoch wie immer, wenn Routine ins Spiel kommt, wurde die Überprüfung mit einer gewissen Nonchalance ausgeführt. Später einmal fuhr ich mit einem Freund zum Spaß an einem Sonntagmorgen mit zwei Bananen, die wir recht gut sichtbar am Fahrzeugboden angebracht hatten, sämtliche Objekte in Priština an, die mit einer solchen Schleuse versehen waren. Erst an der Einfahrt zum Hauptquartier der Nato fiel den Kontrolleuren auf, daß da Obst ungehörig am Chassis des EU-Dienstwagens hing.
Da meine Ankunft an einem Samstag geschah, lag das Blue Building still und verwaist in der niedrig stehenden Februarsonne. Seine Bezeichnung war treffend gewählt, denn die gesamte Fassade bestand aus blau getöntem Glas, wie es damals im Kosovo Mode war und man es an Sportwagen, Restaurants und sogar Privathäusern sehen konnte. Da das Gebäude schon in wenigen Wochen mit dem noch nicht im Lande befindlichen International Civil Representative (ICR) auch den European Union Special Representative in Personalunion beherbergen sollte, wurde die blaue Farbe von den Insassen wie der Bevölkerung als politisches Signal europäischer Präsenz gedeutet. Es hieß, das Blue Building sei ohne Baugenehmigung errichtet worden, aber das war im Kosovo ohnehin Normalität, und dank seiner blauen Farbe, die bald auch auf die zu seinem Schutz errichtete Betonmauer aufgetragen wurde, war es seinem Mieter – meinem Arbeitgeber – wohl über jeden Zweifel erhaben. Bei dem Gebäude handelte es sich um eine in der bereits beschriebenen, ortsüblichen Bauweise mit Ziegelsteinen angefüllte Betonkonstruktion aus sechs geräumigen Stockwerken. In diesem Fall jedoch ausnahmsweise verputzt. Dieser schon anhand seiner Farbe prätentiöse Neubau wäre auf den ersten Blick auch als mittelmäßiges Bürogebäude im Industriegebiet einer deutschen Vorstadt durchgegangen. Erst in seinem Inneren entdeckte man nach und nach Baumängel, die man andernorts vermutlich dann doch nicht akzeptiert hätte: Abfließendes Regenwasser trat bei Wind durch die blaugetönten Fenster ein, tragende Betonsäulen standen inmitten vieler der jeweils von zwei oder gar mehr Personen genutzten Bürozimmer als auch der größeren Besprechungsräume und erschwerten darin die Kommunikation. Viele Türen waren verzogen, weil die Böden eine gewisse Neigung aufwiesen, und die Stufen der Haupttreppe waren von unterschiedlicher Höhe, so daß man unversehens auf ihr ins Stolpern geriet. Aber alles in allem war das Gebäude erträglich; schließlich war ich nicht des Komforts wegen ins Kosovo gekommen.