Vorläufig jedoch erschien das Denkmal in freudigem Gelb, und den ganzen Nachmittag über streifte ich durch die Innenstadt. Nur einmal pausierte ich in meinem engen Hotelzimmer, da es trotz des Sonnenscheins winterlich kalt war und ich mich aufwärmen wollte. Für den Abend hatte ich dank Veronikas Empfehlung eine Einladung zu einem Empfang des Deputy ICR erhalten. Das ICO wurde durch den International Civilian Representative, den ICR, geführt. Dieser stellte gemäß der noch zu verabschiedenden Verfassung die höchste zivile Instanz im Kosovo dar, befand sich allerdings noch gar nicht im Lande. Sein Stellvertreter jedoch war schon im Amt und fungierte somit als ranghöchster Angehöriger unseres ICO-Vorbereitungsteams. Der Mann hieß John Barton und war Amerikaner, Diplomat und, vielen Stimmen zufolge, Nachrichtendienstler. Auch er hatte mich im Rahmen meiner Rekrutierung in Brüssel interviewt, so daß wir bereits einen ersten Eindruck voneinander hatten gewinnen können.
Was er von mir hielt, außer der Tatsache, daß er meiner Einstellung zugestimmt hatte, erfuhr ich bis zum Ende meiner Dienstzeit nicht. Auf mich wirkte er zu diplomatisch, wenig pragmatisch und zupackend, eher intellektuell und professoral statt professionell. Er war hochgewachsen, hager, schlaksig und mit klugen Gesichtszügen, in amerikanischer Manier immer etwas nachlässig und in zu großen Anzügen gekleidet, mit in gedeckten Farben gehaltenen Button-down-Hemden und in dünnem Knoten zu lang gebundenen, viel zu bunten Krawatten. Er war alleinstehend und verfügte über ein hervorragendes, überraschend geschmackvoll eingerichtetes Appartement ganz oben am Dragodan-Hügel, mit weiter Aussicht auf die Stadt und die am Horizont zu ahnenden Berge. Barton hatte einige Dienstjahre im Orient zugebracht und von dort eine Reihe von Exponaten und Kunstgegenständen mitgebracht, die seine Wohnung schmückten. Daß ich keinen persönlichen Zugang zu ihm fand, bedauerte ich manchmal. Wie ich führte er Tagebuch. Sicherlich wäre er ein interessanter Gesprächspartner gewesen, doch er blieb mir verschlossen. Das Letzte, was ich nach meiner Zeit im Kosovo von ihm hörte, war, daß er einen neuen Posten im Irak angetreten habe.
Überhaupt schienen sich so manche meiner Kollegen im Kosovo über kurz oder lang im Irak oder gar in Afghanistan wiederzufinden. Einige verschlug es auch in den Kaukasus; die meisten aber blieben auf immer auf dem Balkan. Die Entwicklungshilfe war auf Dauer nicht mein berufliches Ziel, so daß ich mir von Anfang an vornahm, meinen Aufenthalt auf maximal ein Jahr zu begrenzen – eben bis ich den Berg Ljuboten von meinem Büro aus nicht mehr würde sehen können.
Das Bonmot kursierte unter uns Macchiato-Diplomaten, daß man drei sogenannte M-Phasen im Entwicklungsdienst absolviere: missionary, mercenary, misfit. Man begann als Missionar mit einer gehörigen Portion Idealismus, wurde dann aufgrund der guten Bezahlung zum desillusionierten Söldner, um zuletzt für Beruf und bürgerliches Leben in der Heimat untauglich geworden zu sein. Das aber war nicht der Weg, den ich beschreiten wollte.
Als ich den Dragodan-Hügel unterhalb der Residenz John Bartons über die lange Freitreppe erklommen hatte, mit der man in rüstigem Fußmarsch die serpentinenartig hinanführende Straße abkürzen konnte, brauchte ich eine Weile, um sein Haus zu finden. Doch dann bemerkte ich schon aus einiger Entfernung die Gesellschaft, die sich hinter den hell erleuchteten, großen und bis auf den Fußboden hinabreichenden Fenstern im obersten Stock des Appartementgebäudes versammelt hatte. Trotz der niedrigen Temperatur befand man sich auch auf der großzügigen, hinter schußsicherem Panzerglas geschützten Dachterrasse in lockerem Gespräch. Jazz-Musik, Gelächter und Stimmengewirr waren von der Straße her zu vernehmen. Ich gesellte mich hinzu und wurde von Barton freundlich aufgenommen. Er hielt eine kurze Rede über den historischen Moment sowie die großen Aufgaben, die uns erwarteten, und brachte einen Toast auf die neugegründete Republik Kosova aus.
Als habe Priština auf das Ende seiner Ansprache gewartet, brach nach Bartons letztem Satz kolossales Geknattere in der ganzen Stadt los wie der Lärm eines schweren Infanteriegefechts. Salvatory fire, sagte Barton trocken, und alles stürzte auf die Terrasse, um sich das Freudenfeuer anzusehen: Militärische Leuchtkugeln stiegen in die nachtschwarze Luft, um am Fallschirm qualmend und langsam zu Boden zu trudeln, ganze Stadtviertel in gespenstisches Licht tauchend, einmal gelb, dann wieder rot und grün. Aus unzähligen Läufen ratterten die an Ton und Kadenz unverkennbaren Salven von Kalaschnikow-Sturmgewehren, und Garben von Leuchtspurmunition zischten durch den Himmel. Dazwischen knallten in schneller Folge einzelne, trockene Pistolenschüsse aus allen Ecken der Stadt. Das vielfältige Getöse war von unserem erhöhten Standpunkt aus gut vernehmbar, zumal wir die Panzerglasscheiben von Bartons Terrasse zur Seite hin aufgeklappt hatten. Ich erfuhr von einer hübschen Diplomatin aus Schweden, daß es im Kosovo mehr Schußwaffen als Einwohner gebe, und vermutete, daß keine einzige davon in dieser Nacht nicht zum Einsatz kam. Man solle sich nicht im Stadtzentrum aufhalten oder sich zumindest unterstellen, krächzte es sodann aus unseren Funkgeräten, damit man nicht von herabfallenden Projektilen getroffen werde. Der Kitzel der Gefahr würzte die Stimmung aller. Sprachlos blickte ich lange auf den feuerspeienden Hexenkessel zu meinen Füßen und sagte mir schließlich, daß der Geruch von Pulverdampf wohl zwangsläufig zur Geburt von Staaten gehöre – genau wie zu ihrem Untergang. Bartons Champagner war köstlich, und die schwedische Diplomatin tunkte eine Erdbeere in mein Glas, um sie mir anschließend in den Mund zu stecken.
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