Doch da war niemand.
Dann hörte sie den schweren Atem.
Das Geräusch kam aus der Sauna.
Er hatte die Tür also aufbekommen, war aber noch nicht raus aus dem kleinen Raum.
Jan merkte, dass sich ein Schatten im Badezimmer bewegte. Er war nicht mehr allein. Eine Frauengestalt kam auf ihn zu. Anna-Lena. Nein, nur Anna. Nein, Lena.
Die Schmerzen in der Schulter behinderten Jan beim Denken. Und der Durst.
Jan lehnte noch immer an der Holztäfelung. Er merkte, wie ihn jemand anfasste und zurück zur Saunabank führte. Er musste sich wehren. Er musste die Frau zur Seite stoßen und die Flucht ergreifen. So eine Chance kam so schnell bestimmt nicht wieder. Er war zwei Köpfe größer als sie und wog fast das Doppelte. Er sollte doch leichtes Spiel mit ihr haben.
Ohne es zu wollen, plumpste er auf die Saunabank, als die Frau ihn in die entsprechende Richtung drückte.
Kurz schloss er die Augen. Nur ein paar Sekunden. Als er sie wieder öffnete, sah er Lena auf sich zukommen. Sie musste noch einmal im Badezimmer gewesen sein.
Die junge Frau trug ein langes T-Shirt und enganliegende Leggings. Ihre Füße waren nackt. In der Hand hielt sie ein Glas Wasser.
Die Kühle vom Glas war fast noch besser als das Trinken selbst. Sobald Jan das Glas an den Lippen hatte, schluckte er alles mit wenigen langen Zügen hinunter. Ein Hustenanfall war der Preis für seine Gier.
»Ich hole noch eines«, sagte Lena und verschwand erneut. Sofort hatte Jan Sorge, die Tür würde wieder geschlossen werden und er allein in der Kammer hocken bleiben. Stattdessen hörte er das Rauschen eines Wasserhahns. Dann kam Lena zurück in die Sauna. »Nicht gleich wieder alles austrinken«, mahnte sie. »Ich habe ein paar Schmerztabletten für Sie.«
Jan ließ sich zwei Tabletten auf die Hand legen, nachdem er das Glas auf die zweite Ebene der Sitzbank gestellt hatte. »Danke«, sagte er und starrte die Tabletten an. Sie würden ihn noch träger machen, das stand fest. Andererseits würden sie hoffentlich den Schmerz lindern. Und mit weniger Schmerzen würde er besser denken können. Jan führte die Hand zum Mund. Danach griff er wieder zum Wasser. Diesmal trank er langsamer.
Er nutzte die Zeit, um sich einige Worte zurechtzulegen. Die Situation war günstig, vielleicht einmalig. Er musste das Mädchen auf seine Seite ziehen. Auch wenn es brutal war, sah er nur eine Möglichkeit, wie das ging. Und irgendwann würde Lena es sowieso erfahren.
»Ich habe Ihre Schwester gesehen«, sagte er.
Lena drehte den Kopf.
»Heute Morgen am Strand.«
Lena zuckte mit den Schultern.
»Helfen Sie mir hier raus. Dann sag ich Ihnen, was ich über sie weiß.«
»Quatsch«, erwiderte Lena und wirkte wütend. »Sie haben niemanden gesehen. Warum erzählen Sie so was? Ohne mich wären Sie schon verblutet. Und zum Dank erzählen Sie mir solchen Quatsch.«
Der Blutverlust. Das erklärte, warum er so schwach war. Die Verletzung in der Schulter allein konnte es nicht sein.
»Ich bin hier Ihre einzige Verbündete. Wissen Sie das?«
Er nickte. »Natürlich. Entschuldigen Sie … Was wollen Sie wissen? Ich sag Ihnen alles, was ich weiß.«
»Dann sagen Sie mir, was das mit dem Hotel soll.«
»Welches Hotel?«
»Sie behaupten, dass alle Hotels schon lange ausgebucht seien. Warum erzählen Sie so was?«
»Weil es wahr ist.«
»Was ist wahr?«
»Dass alle Hotels ausgebucht sind. Aber Anna braucht auch keines.«
»Ich versteh kein Wort.«
»Weil Anna tot ist.«
»Bullshit. Fangen Sie schon wieder mit Ihrem Quatsch an?«
»Sie ist von einer Klippe gestürzt.«
»Ist sie nicht.«
Lena drehte sich weg und wollte gehen.
»Ich lüge nicht«, versicherte Jan. »Da lag vorhin wirklich eine tote Frau am Strand.«
»Sie wollen mich austricksen.« Lena wollte dies mit Nachdruck sagen, doch sie hörte selbst, dass es wie eine Frage klang.
Jan durfte jetzt nicht nachlassen. »Diese beiden Männer, woher kennen Sie die? Sind das Freunde von Ihnen?«
Lena schüttelte den Kopf. »Ich … Wir kennen uns kaum. Sie kommen aus Hamburg. Ich nicht. Ich wohne in Uelzen.« Pause. »Anna hat uns bekannt gemacht. Anna studiert in Hamburg. Da hat sie die beiden kennengelernt.«
Jan blickte das Glas in seiner Hand an, sagte dann: »Sie dürfen denen nicht länger trauen. Vielleicht war es ein Unfall mit Anna. Ich weiß es nicht. Aber …«
»Hören Sie auf!« Am liebsten hätte Lena sich die Ohren zugehalten und wäre ohne weitere Worte aus der Sauna verschwunden. Doch das schaffte sie nicht.
»Was immer diese Männer jetzt vorhaben«, sagte Jan, »eines ist sicher: Sie dürfen ihnen nicht mehr trauen.«
Lenas Blick fixierte Jan.
»Wir sind jetzt beide so was wie Zeugen. Und so, wie ich diesen Armbrustschützen einschätze …«
»Dennis.«
»… will er keine Zeugen. Er will den ganzen Vorfall vertuschen.«
Lena verdrehte die Augen. »Es gab keinen Vorfall!«
»Er wird mich hier nicht wieder rauslassen. Jedenfalls nicht lebend. Und nur wir beide können ihn identifizieren.«
Lena schüttelte den Kopf.
»Und das heißt, dass er auch Sie loswerden muss.« Jan wartete mit dem Weitersprechen so lange, bis Lena ihn erneut ansah. »Hören Sie mir zu, Lena. Wenn die beiden morgen mit Ihnen auch dieses Spiel machen wollen, dann gehen Sie nicht mit. Denken Sie sich eine Ausrede aus. Verletzen Sie sich vorher am Fuß oder so. Vielleicht auf der Treppe. Oder besser noch, fahren Sie mit ihnen mit und springen Sie aus dem Auto, sobald Sie in einer etwas belebteren Gegend sind. Egal, wo. Laufen Sie bei einem Bäcker rein oder in ein anderes Geschäft. Und dann rufen Sie die Polizei. Denn wenn nicht … dann werden Sie das hier nicht überleben.«
Lena atmete tief durch, und Jan hoffte, dass er die junge Frau mit seinen Worten erreicht hatte. Doch dann merkte er, wie sich ihr Körper spannte und die Stimmung sich drehte. Schnell fügte Jan hinzu: »Es gibt Beweise. Gehen Sie auf die Seite vom Sylter Spion. Die finden Sie im Internet. Sylter Spion. Muss leicht zu finden sein. Er hat die tote Frau am Strand fotografiert.« Jan unterstützte seine Worte mit einem Nicken. »Er hat Anna fotografiert!«
Lena hörte, was dieser fremde Mann sagte, doch sie wollte es noch immer nicht glauben.
»Sehen Sie sich die Fotos an. Wenn es nicht Anna ist, was haben Sie zu verlieren? Aber wenn sie es ist …«
Die Pause zwischen seinen Worten dauerte länger als gewollt.
»… dann kommen Sie wieder und lassen mich hier raus.«
»Das ist so ein Bullshit. Echt jetzt!« Lena sah ihn nicht an. »Dennis hat gesagt, dass ich nicht mit Ihnen sprechen soll. Weil Sie lügen. Und das stimmt. Sie lügen die ganze Zeit.«
Wut funkelte in ihren Augen.
Dieser Mann saß halbnackt und zusammengesunken auf der Holzbank vor ihr. Der Verband um seinen Oberkörper und die Schulter war verrutscht, die Kompressen rot durchgeblutet. Doch sie konnte kein Mitleid für Jan empfinden. Im Gegenteil. Sie roch seinen Schweiß, und ihr wurde übel davon. Sie bereute, zu ihm gegangen zu