Über einen Link ließ sich das Filmchen dann direkt ansehen. Heraus kamen Beiträge wie: Unglaublich … süß. Unglaublich … gefährlich. Oder: Unglaublich … fies.
Es brauchte nur eine Woche, bis die rapide steigenden Besucherzahlen des Lauffeuers anzeigten, wie gut die neue Rubrik bei den Lesern ankam. Ein entsprechend starker Zuspruch ließ sich in den Netzwerken der sozialen Medien registrieren. Die Artikel zu unglaublich … wurden 100-fach geteilt und mit Daumen nach oben oder wütenden Emojis versehen. Ein Umstand, der sowohl den Werbekunden als auch Christian sehr gut gefiel.
»Jan war ziemlich interessiert an der Sache«, sagte Christian nun. »Immer wieder habe ich gesehen, wie er Dana über die Schulter gesehen und den Kopf geschüttelt hat. Stimmt’s nicht, Dana?«
»Ja, er ist ein schlauer Kopf, der Jan.«
Charlotte wartete automatisch darauf, dass Dana bei einem der Worte stolperte. Doch ihr Deutsch war trotz eines deutlichen slawischen Akzents fehlerlos.
»Besonders ein Artikel hat es ihm angetan. Ich habe ihn unglaublich … gemein genannt.«
»Kann ich den mal sehen?«
Dana stellte den Kaffeebecher auf einem Schreibtisch ab und gab stehend, über die Tastatur gebeugt, ein Passwort in den Computer ein. Während sie im System angemeldet wurde, zog sie den Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne. Für eine Garderobenfrau war sie ziemlich schick gekleidet.
»Ein Mädchen wird über ein großes Gelände gehetzt«, sagte sie. »Sie hat so gut wie nichts an. Und dann wird von irgendwo mit Farbpatronen auf sie geschossen.«
»Ein Mädchen«, wiederholte Charlotte. »Wie alt?«
»Na, kein richtiges Mädchen mehr. So alt wie ich. Asiatischer Typ. Geschminkt, als trage sie Kriegsbemalung. Männern gefällt so was. Am besten zeige ich es dir. Setz dich.«
Charlotte folgte der Aufforderung, während Dana sich mit rundem Rücken neben ihr auf den Schreibtisch stützte und mit der Computermaus arbeitete. Trotz sehr langer Fingernägel gelang es ihr mühelos, mit der linken Hand über die Eingabetastatur zu tanzen. Wieder fiel Charlotte auf, wie gut diese Frau roch.
Als Dana den richtigen Artikel angeklickt hatte, ließ sie Charlotte zunächst den Text lesen. Darin regte sich Dana über den offen ausgelebten Sexismus des Videos auf und verurteilte diesen mit messerscharfen Worten. Gleichzeitig wusste sie, dass der Leser, durch den Artikel neugierig gemacht, gleich den Link anklicken und den Clip ansehen würde. So funktionierte die neue Rubrik eben. Danas Text war nicht das Ausschlaggebende. Wichtig waren die Filme.
Auch Charlotte folgte dem vorgesehenen Schema. Der Text war kurz und präzise. Sie brauchte nur eine Minute, um ihn zu lesen. Dann klickte sie den Link an. Das Video selbst dauerte rund sechs Minuten. Zwischendurch sagte Charlotte immer wieder »okay« oder »krass«. Danach blickte sie Dana an, die sich einen anderen Schreibtischstuhl herangezogen hatte.
»Und damit hat Jan sich beschäftigt?«
»Ja, genau. Guck dir mal die Klickzahlen des Films an. Der geht richtig ab. Und das hat Jan interessiert. Er wollte herausfinden, wer so was macht. Wie sie auf ihre Ideen kommen. Und dann wollte er wohl auch noch die Moralfrage stellen.«
»Und? Was ist dabei rausgekommen?«
»Keine Ahnung. Der Titel gibt ja nichts her. Bitches in der Mangel.«
Stimmt, dachte Charlotte. Das gibt nichts her. »Wieso überhaupt bitches?«, fragte sie halblaut. »Das ist doch nur eine bitch da, oder.«
Dana grinste. Dann sagte sie: »Ich glaube, er hat sich auch mit deinem Mario über die Sache unterhalten.« Da ihr Blick über die Schulter ging, war klar, dass sie Christian ansprach.
»Mein Mario?« Christian zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, was du meinst.«
24
Die Übelkeit war schlimm, der Durst noch schlimmer. Obwohl der Ofen in der Sauna nicht eingeschaltet war, war die Luft extrem trocken. Sein Zeitgefühl hatte Jan völlig verloren. Schon zu lange war er in dem kleinen Raum von der Außenwelt abgeschnitten. Nur wenig Licht fiel durch ein kleines Fenster in der Tür. Jan wusste zwar noch, wie er in die Sauna gekommen war, dennoch schien alles irreal. Ein Wahnsinn.
Der Schmerz in der Schulter erinnerte ihn daran, dass er nicht nur einen Albtraum gehabt hatte.
Anna tot.
Anna, die nicht Anna-Lena war.
Und er halbtot.
Jedenfalls angeschossen.
Ohne das Handtuch und den Druckverband wäre er verblutet. Also traf es halbtot doch ganz gut.
Er musste etwas unternehmen. Sonst ließe sich das halb morgen streichen. Dass jemand Hilfe holte, womöglich einen Arzt, davon ging Jan nicht aus. Hier lief etwas in die falsche Richtung; mit einer hohen Eigendynamik. Etwas, das sich nicht so leicht aufhalten ließ.
Keine Hilfe in Sicht. Und niemand wusste, wo er war. In der Redaktion nicht. Und auf der Insel auch nicht. Weder Martens noch Eggestein. Hätte er dem Polizisten gesagt, wo er hin wollte … Aber das hatte er nicht.
Der Taxifahrer, der ihn angerufen hatte, wusste etwas. Aber welchen Grund sollte er haben, nach Jan zu suchen. Na gut, wenigstens eine kleine Chance bestand.
Aber darauf konnte Jan sich nicht verlassen. Er musste selbst etwas zu seiner Rettung unternehmen. Und zwar jetzt.
Nicht in zehn Minuten. Nicht in fünf. Jetzt.
Sofort schoss der Schmerz in seine Schulter. Dabei hatte er nur die Beine bewegt.
Ignorieren. Kurze Pause. Minipause. Und weiter.
Die Beine runter von der Holzbank. Dann vorwärts bis zur Tür.
Jan wusste nicht, ob er die Schritte zur Tür wirklich machte, oder sie sich nur vorstellte. Doch dann roch er das Nadelholz der Täfelung, gegen die er sein Gesicht drückt.
Mit der unverletzten Hand fasste er nach dem Türgriff. Er war ebenfalls aus Holz. Eine Klinke gab es nicht. Die Tür sollte sich nicht verriegeln lassen. Trotzdem ließ sie sich nicht öffnen.
Etwas musste von außen vor die Tür gestellt worden sein.
Weil Jan nicht genug Kraft im Arm hatte, drehte er sich um und trat, einem ausschlagenden Pferd gleich, mit der Fußsohle gegen die Tür.
Der Krach interessierte ihn nicht. Er konnte keine Rücksicht darauf nehmen.
Immer wieder trat er zu. Immer wieder.
Pause.
Hatte sich was getan?
Er rüttelte mit der Hand an der Tür.
Wieder umdrehen. Wieder zutreten.
An der Tür rütteln.
Und endlich passierte etwas.
Plötzlich gab die Tür nach, schwang nach außen, traf irgendetwas am Boden und blieb halb offen stehen.
Jan war so überrascht, dass er sich nicht mehr rührte und einfach nur auf die Fliesen jenseits der Tür starrte. Sein Atem ging stoßweise.
25
Ein Stuhl lag neben der Saunatür. Dennis musste ihn hergeschleppt haben. Um keine Geräusche im Flur oder auf den Badezimmerfliesen zu machen, hatte Lena ihre Schuhe ausgezogen. Sie war kurz oben gewesen, um eine Packung Schmerztabletten aus ihrem Zimmer zu holen. Falls Dennis noch einmal auftauchen sollte, hatte sie so wenigstens eine Ausrede parat. In Wirklichkeit wollte sie jedoch etwas anderes von dem Mann in der Sauna. Sie musste mit ihm über Anna reden. Ob Dennis das wollte oder nicht.
Fick dich, Dennis.
Den