Lange galt: Jugendliteratur ist für-Literatur; von speziellen Autor/-innen geschrieben, in speziellen Verlagen verlegt, als Sparte klar definiert. Eine Literatur, die sich an spezielle Adressaten wendet. (Knödler 2012, 160)
Ihre Schlussfolgerung, nachdem sie exemplarisch die literarischen Qualitäten mancher ›Jugendbücher‹ erläutert hat, lautet: diese ›für-Rolle‹ ist überholt, weil sich die Jugendliteratur zu einer »experimentierfreudigen, eigenständigen Literatur« weiterentwickelt hat (Knödler 2012, 165).
Die Buchkäufer sind nicht die Leser
Das klassische Dilemma des KJB ist die weitgehende Inkongruenz der Zielgruppe ›Käufer von KJB‹ mit der Zielgruppe ›Leser von KJB‹. Das ist ein großer Unterschied zur allgemeinen Literatur für Erwachsene, aber auch zum Fernsehen oder zum Internet, die sich im Prinzip direkt an ihre Nutzer wenden. Daher unterliegen KJBV stets der Versuchung, eine Literatur für Vermittler statt für die eigentliche Zielgruppe zu sein; und sie unterliegen umgekehrt der Gefahr, ihre Stärken verkennend, ihre Zielgruppe inhaltlich, sprachlich und ästhetisch zu unterfordern.
Statistische Erhebungen über Buchkäufer sind rar, insbesondere bezogen auf KJB. Die gemeinsam vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der avj (Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen) beauftragte Studie Kinder- und Jugendbücher – Marktpotenzial, Käuferstrukturen und Präferenzen unterschiedlicher Lebenswelten wurde zuletzt 2007 von GfK (Gesellschaft für Konsumforschung) und Sinus Sociovision durchgeführt. Basis dafür waren zwei Erhebungen: das repräsentative GfK-Buchmarkt-Panel von 2006, für das 20.000 Personen ab 10 Jahren monatlich zu ihren Buchkäufen befragt wurden; und eine Ad-hoc-Befragung von 1.448 repräsentativ ausgewählten KJB-Käufern ab 10 Jahren. Zwei markante Ergebnisse hat diese Studie ergeben, die nach allem, was man weiß, heute nicht wesentlich anders ausfallen würden:
• 69% der KJB werden von Frauen gekauft.
• Nur bei 7% der KJB sind die Käufer unter 20 Jahre alt.
Dank der neuen gesetzlichen Regelungen zur Elternzeit und aufgrund sich verändernder Lebensprioritäten bei Müttern wie Vätern sind vermutlich heute mehr junge Väter in den Lebensalltag ihrer Kinder und damit auch in alltägliche Verrichtungen wie Bücherkaufen einbezogen. Selbst wenn der eigentliche Kauf von Erwachsenen vollzogen wird – Kinder äußern ja auch Wünsche, die erfüllt werden.
1.6
Das Kinder- und Jugendbuch als zweitgrößte Teilbranche des Buchmarkts
Immer wieder löst man selbst bei buchaffinen Menschen Erstaunen aus, wenn man nicht nur auf die kulturelle Bedeutung, sondern auch auf das ökonomische Gewicht des KJB hinweist. Aufschlussreich ist der Vergleich mit der Belletristik, die traditionell und stabil den größten Anteil am Buchmarkt darstellt.
Sowohl die Belletristik als auch das KJB verzeichnen seit den 1950er Jahren einen kontinuierlichen Anstieg. Bei der Belletristik hat sich etwa seit der Jahrtausendwende ein Volumen oberhalb von 30 % Umsatzanteil stabilisiert. Dagegen gibt es keinerlei Hinweise, die gegen ein weiteres Wachstum des KJB sprechen – übrigens entgegen landläufiger Pauschalmeinungen, wonach ›die Jugend nicht mehr liest‹.
Ebenso beachtlich ist die Tatsache, dass heutzutage etwa doppelt so viele KJB-Novitäten erscheinen wie um die Jahrtausendwende. Die Buchproduktion (also die Anzahl der jährlichen Neuerscheinungen) lässt sich gut als ein Indiz für das Phänomen des erheblichen Gewichts des KJB nehmen.
Während die Literatur für erwachsene Leser ihre Titelproduktion seit 1975 etwas mehr als verdoppelt hat, ist beim KJB eine Vervierfachung festzustellen. Da diese Entwicklung bei den beiden großen Editionsformen Hardcover und Taschenbuch sehr unterschiedlich verlaufen ist, lohnt sich ein Blick auch auf diese Statistiken. Seit das Taschenbuch in den 1950er Jahren seinen Siegeszug begonnen hat, war für viele Romane und Sachbücher der übliche Verwertungsweg: erst Hardcover, dann Taschenbuch. Seit den 1980er Jahren veränderte sich die Situation: Immer mehr gingen die Taschenbuchverlage dazu über, Original- und Deutsche Erstausgaben zu verlegen. Zudem wurden verschiedene weitere Ausstattungsformen erfunden, wie Paperback, Klappenbroschur, Mini-Bücher oder Hardcover-Bücher im kompakten Format.
Quelle: Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hg.), Buch und Buchhandel in Zahlen. Verschiedene Jahrgänge
Für viele Bücher funktionierte es fast wie automatisiert, dass auf die Originalausgabe das Taschenbuch als Zweiterscheinungsform folgte – auch im KJB. Das Taschenbuch wurde oft als die lebendige Backlist betrachtet, um etwa das Gesamtwerk eines Autors lieferbar zu halten. Seit Anfang der 2000er Jahre spielt das Taschenbuch im KJB allerdings längst nicht mehr diese starke Rolle.
Das liegt zum einen daran, dass die Herstellungskosten für einfache Hardcover-Bücher sich nicht mehr so dramatisch von denen für gut ausgestattete Taschenbücher unterscheiden. Die Ladenpreise konnten sich also einander annähern, da die gebundenen Bücher in der Beschaffung günstiger und die Taschenbücher (auch durch deutlich gesunkene Auflagen) teurer wurden. Zum anderen möchten Buchkäufer insbesondere Kindern haltbare und wertvoll wirkende Bücher zukommen lassen. Und im Jugendbuch ist es oft so, dass eine Neuheit unbedingt gelesen werden will, sobald sie erschienen ist; man will nicht ein, zwei Jahre auf das Erscheinen des Taschenbuchs warten.
Eine dauerhafte Sonderentwicklung erlebt das Taschenbuch beim Einsatz in der Schule. Bedingt durch oft gezielt niedrig gehaltene Preise, eignen sich Taschenbücher auch als Klassenlektüre. Oft wird dies durch aufbereitete Unterrichtsmaterialien unterstützt, die von Lehrern gratis von den Websites der Taschenbuchverlage heruntergeladen werden können. So halten sich bestimmte Titel seit Jahrzehnten als Bestseller, die nicht auf diesen Listen erscheinen, z. B. Damals war es Friedrich von Hans Peter Richter (dtv-junior, ein Roman über die NS-Zeit) oder Vorstadtkrokodile von Max von der Grün (cbt, eines der ersten Kinderbücher, das im Rahmen einer Abenteuergeschichte von der Inklusion eines behinderten Kindes erzählt).
Quelle: Börsenverein des Deutschen Buchhandels (Hg.), Buch und Buchhandel in Zahlen. Zahlen gerundet
Das Verhältnis von Hardcover- zu Taschenbüchern hat sich in der Belletristik anders entwickelt als im KJB. Wenn heute auf 100 gebundene Kinder- und Jugendbücher etwa 8 Taschenbücher kommen, ist die Relation bei den Büchern für Erwachsene etwa dreieinhalbmal so groß: auf 100 Romane in gebundener Form kommen 29 Taschenbücher.
Auch wenn zum Vergleich mit den anderen Teilbranchen des Buchmarkts eine Aggregation zum Segment KJB sinnvoll ist, ist jedoch auch der Blick in die innere Struktur des KJB-Segments notwendig. Denn hier offenbaren sich sehr unterschiedliche Entwicklungen in den einzelnen #Warengruppen.
Quelle: GfK Deutschland/Sortimentsbuchhandel/E-Commerce/WH/Umsatz Warengruppe Kinder- und Jugendbücher (HC/TB/Hörbuch). Zitiert nach Buch und Buchhandel in Zahlen 2020
Die Tabelle zeigt einen erheblichen Anstieg des Bereichs der stark illustrierten Kinderbücher – am deutlichsten bei den Bilderbüchern, die von manchem am Anfang der 2000er Jahre bereits totgesagt wurden. Der klassische Kernbereich Kinderbücher hat seinen Anteil im Großen und Ganzen gehalten – mit leicht verbesserter Tendenz. Das Jugendbuch dagegen verzeichnet einen dramatischen Rückgang auf die Hälfte seines früheren Volumens. Dies erklärt sich wohl zu einem erheblichen Teil damit, dass der Boom von All-Age-Titeln wie die Bis(s)-Serie und einige Nachfolge-Reihen zu Harry Potter nachgelassen hat. Der Sachbuch-Bereich, auch zum Beginn der Digitalisierungs-Euphorie von manchen Trend-Gurus eher abgeschrieben,