Ähnlich ist es im Sachbuch-Bereich. Während es in vielen anderen Ländern überhaupt keine Frage ist, dass ein hochangesehener Fachwissenschaftler ein Sachbuch für junge Leser verfasst, z.B. Stephen Hawking, ist das bei uns eine – lobenswerte – Seltenheit, wie im Fall des Astrophysikers Harald Lesch, der sich mit der Kinderbuchautorin Gudrun Mebs zusammengetan hat, um Kindern Themen wie Evolution, Astronomie, Philosophie oder Mathematik zu erklären.
Wie kann man diese eigenartige Diskrepanz erklären? Hier ein Versuch: Im deutschsprachigen Feuilleton wurde lange Zeit eine Unterscheidung gepflegt, heutzutage oft heftig bestritten, teils bewusst ignoriert, aber latent immer noch vorhanden: die zwischen E und U, ernster und unterhaltender Literatur. Man kennt diesen Gegensatz auch in der Musik. In der angelsächsischen, skandinavischen, frankophonen, russischen und sicher auch vielen weiteren Kulturen ist eine derartige Unterscheidung nicht gebräuchlich. Es gehört zu den großen Verdiensten eines Verlegers wie Daniel Keel, solche Grenzen gesprengt zu haben, indem er den einst von ihm mitgegründeten Diogenes Verlag nach dem Voltaire’schen Motto geführt hat:
Jede Art zu erzählen ist erlaubt, nur nicht die langweilige. (Voltaire)
Eine ähnliche Grenzziehung verlief früher auch durch das KJB in Gestalt der Gegenübersetzung des ›guten Buchs‹ gegen ›Schmutz und Schund‹, womit vor allem Comic-Hefte, aber auch ›Kaufhaus-Bücher‹ aus dem Franz Schneider Verlag und Ähnliches gemeint waren. Paul Maar hat für die Gegenwart einen entsprechenden Kontrapunkt formuliert:
Früher sagte man: ›Das Buch ist gut‹.
Heute sagt man: ›Das Buch ist gut verkäuflich‹. (Maar 2014)
Das Kinder- und Jugendbuch: Ein Teil der Pädagogik?
Das ›gute‹ KJB stammte entweder von einem klassischen Schriftsteller oder von einem in den neuen Kanon der KJB aufgenommenen Autor wie Otfried Preußler, Max Kruse oder Paul Maar. Alle diese großen Autoren der Nachkriegszeit haben sich dem Zugriff der Pädagogik aus guten Gründen entzogen – obwohl sie selbst einige Zeit als Lehrer gearbeitet haben.
Dem Deutsch-Unterricht an der Schule wird ja mitunter zurecht vorgeworfen, er trage eher zum Desinteresse an der Literatur bei, als dass er junge Menschen für das Lesen begeistere. Dies hängt sicherlich, wie überhaupt jeder Lernerfolg, vom Lehrer ab. Auf eine besonders prägnante Kurzform lässt sich die Zerstörung des Zaubers der Poetik anhand des Umgangs mit Gedichten im Unterricht darstellen. Ein Gedicht ist eben etwas ganz anderes als die Summe seiner Teile, auch wenn die ›Teile‹ Wörter und Sätze sind.
Dann wurde es ganz auseinandergenommen
Und jeder Vers wurde einzeln besprochen.
Das hat dem Gedicht das Genick gebrochen.
(Bernd Lunghard: Gedichtbehandlung)
In vordemokratischen Zeiten sollten KJB eine erzieherische Funktion im Sinne der herrschenden gesellschaftlichen Ziele erfüllen. Dominierten in der Kaiserzeit die Ideale einer autoritätshörigen, starren, oft auch nationalistischen Bürgerlichkeit, ging es in totalitären Gesellschaften um Vorbilder für die Jugend, je nach System in nationalsozialistischer oder kommunistischer Gesinnung. Damit war es – zumindest im Westen Deutschlands – nach 1945 vorbei. Auch in der Kinderliteratur der DDR konnten sich trotz staatlicher Genehmigungsprozeduren mit gelegentlichen Verboten neben systemtreuen Werken auch freie literarische Formen entfalten.
Das Kinder- und Jugendbuch: Ein Teil der Unterhaltungswirtschaft?
Zugleich mit und als Teil der Entwicklung der Marktwirtschaft ab 1949 entstand eine Unterhaltungsindustrie: Kinofilme, Zeitschriften, Bücher, Groschenromane, Comic-Hefte. In einigen zentralen Bereichen, wie Rundfunk und Fernsehen, waren allerdings private Unternehmen lange Zeit nicht zugelassen, das System war rein öffentlich-rechtlich geführt. Als diese Beschränkung 1984 fiel, ergoss sich eine Flut von meistens sehr populären (mitunter auch ordinären) Produktionen auf die Bildschirme. Verlage engagierten sich im Privatfernsehen in der Hoffnung, ihre Rechte und Substanzen auf diesem Kanal ein zweites Mal verwerten und verbreiten zu können. Zumindest was die Buch- und KJBV betrifft, hat sich diese Hoffnung recht schnell zerschlagen. Das Medium Fernsehen braucht in der Masse andere Stoffe als das Medium Buch – nur einige sehr bekannte Geschichten oder Serien können auf beiden Schienen fahren.
Nachdem 1989 die innerdeutsche Mauer gefallen war und sich auch im Osten die Marktwirtschaft wild verbreitete, schien der Nachholbedarf an in keiner Weise bevormundender Unterhaltung im Osten Deutschlands noch größer. Es führte dort zu einem großen Verlagssterben und zur Verunsicherung der Existenz zahlloser Schriftsteller, auch im KJB-Bereich, die oft in den neuen Verhältnissen bei den ›westlich‹ geprägten Verlagen mit ihren Büchern nicht mehr ankamen.
Große Hoffnungen wurden auf eine Art Medienkonvergenz gesetzt: Licence Characters (z. B. Disney-Figuren oder eine Zeichentrickfilm-animierte Biene Maja) erschienen zunächst in möglichst vielen Medien wie Film, Fernsehen, Radio, MC-Tonkassette, Buch, Zeitschrift; aber auch als Merchandising-Produkte auf T-Shirts, Geschirr, Kinderfahrrädern, Bettwäsche, Zahnpasta etc. Hier beherrschen oft internationale Medienunternehmen die Szene, die sich je nach Lage vor Ort regionale #Lizenznehmer suchen. Buch heißt in dieser Auswertungsform dann nicht: von guten Autoren geschrieben, von ausgezeichneten Illustratoren bebildert, hochwertig gedruckt – sondern von namenlosen Schreibern und schlecht bezahlten Übersetzern getextet, simpel gezeichnet, billig gedruckt und für einen erbärmlich niedrigen Preis verkauft, meist mit 99 Cent hinter dem Komma. Hier geht es ums Geschäft, hier sind Kinder als Konsumenten gemeint, und diese Medienprodukte findet man auch weniger in Buchhandlungen als im Supermarkt.
Seit schon vor der Jahrtausendwende die #Globalisierung auch die Druckindustrie erreicht hat, werden solche Buchprodukte (oft mit ›Gimmicks‹, also zusätzlichem Mini-Spielzeug aus Plastik) in großen Stückzahlen in Fernost (erst Hongkong und Singapur, später zunehmend China) hergestellt – zu Preisen, die in Deutschland, aber auch Italien oder Belgien nicht zu realisieren gewesen wären. Solche bunten billigen Buchprodukte entziehen sich jeglicher Aufmerksamkeit in der an Qualität orientierten KJB-Szene, auch bei Rezensenten, und erst recht im Bereich dessen, was für den Einsatz in der Schule in Frage kommt.
Eine neue Dimension hat das Verhältnis Literatur/Unterhaltungsindustrie bekommen, als hochwertigere Stoffe zur Verfilmung kamen: Die unendliche Geschichte, Herr der Ringe, Harry Potter, Rennschwein Rudi Rüssel, Tschick, Die Welle oder Das Schicksal ist ein mieser Verräter. In den meisten Fällen ist es so, dass zunächst ein Buch oder eine Buchserie ein großer Erfolg wird – und dann engagiert sich ein Filmproduzent; meist muss eine solche Vermarktung international laufen, da aufwändige Filmproduktionen einen ungeheuren Investitionsbedarf haben, der in einem Land gar nicht zurückverdient werden kann. Solche Filme, die dann auch im Fernsehen wiederholt werden, lösen meist einen weiteren Nachfrageschub bei den Büchern aus. So legen Verlage mitunter bei großangekündigten Kinostarts spezielle Ausgaben auf, die auf dem Cover und zum Teil auch innen mit Bildern aus dem Film ausgestattet sind. In anderen Fällen verzichten Verlage darauf, weil sich oft binnen weniger Tage entscheidet, ob ein Film beim Publikum ankommt oder nicht. In letzterem Fall geriete auch das Buch zum #Flop.
Bei Literaturverfilmungen kann man lange Debatten darüber führen, ob der Geist der literarischen Vorlage gut getroffen ist oder diese verfälscht. Berühmt war der Aufschrei von Michael Ende, der sich mit Grausen von der Verfilmung seiner Unendlichen Geschichte durch den sehr erfolgreichen Regisseur Wolfgang Petersen 1984 distanziert hat. Andere Autoren waren so glücklich mit der verfilmten Version ihres Romans, dass sie sogar eine kleine Nebenrolle übernommen haben, so John Green 2014 in Das Schicksal ist ein mieser Verräter.
Es sind oft Nebensätze und Vergleiche, in denen dem Leser der Kulturseiten auch heute noch despektierliche und/oder ignorante Äußerungen über das KJB begegnen, wie man sie eigentlich von gebildeten Journalisten nicht erwarten können sollte, die sich wenigstens ansatzweise ein Bild von der Entwicklung des KJB bis zur heutigen Qualität und Vielfalt gemacht haben. Wenn ein Kritiker