Ben quetschte sich ebenfalls hinter die Zierpflanzen und sah, dass es nicht viel zu sehen gab. Zwei steril wirkende, blütenweiße Hauswände mit drei winzigen, vergitterten Fenstern, eine Verandatür und sechs Kellerfenster, welche mit weißen Schutzgittern versehen waren. Davor eine leere Rasenfläche, die komplett von einer gut drei Meter hohen und undurchdringlichen Hecke umrandet war. Nur an einer Stelle gab es eine mannshohe geschmiedete Eisentür, durch die man den Garten auch von der Straße aus betreten konnte.
»Die stehen wohl nicht so auf natürliches Licht in den Räumen«, sagte Ben.
»Und nicht auf wilde Gartenpartys, wie es aussieht.«
»Guck dir mal das eine Kellerfenster da an. Ist das Pappe, die davorhängt?«
»Sieht so aus. Vielleicht ist das kaputt oder es wurde eingebrochen.«
»Wäre eine Möglichkeit. Und guck mal hier.« Ben deutete auf den Boden unmittelbar vor ihren Füßen. »Diese Aussicht hier fand schon mal jemand interessant.« Auf dem Boden lagen einige Zigarettenstummel, alle nur bis zur Hälfte geraucht. Kai bückte sich und hob mit spitzen Fingern eine der Kippen auf. »Sunny & Stein«, sagte er bedeutungsschwer. Dann: »Okay, es muss mehr als einen Typen geben, der diese Dinger quarzt. Aber wenn du mich fragst, ist das hier einer der Wohlfühlplätze von diesem Sunstein. Man weiß nur nicht, wie lange die hier schon liegen.«
»Doch«, antwortete Ben und fühlte sich für den Moment wie Hercule Poirot und Adrian Monk in einer Person. »Am Sonntagabend hat es den ganzen Tag wie aus Kübeln geregnet. Diese Kippen können also bestenfalls seit Montag hier liegen.«
»Sind Sie von der Polizei?«, ertönte eine knarzende Frauenstimme hinter ihnen.
Kai zuckte vor Schreck zusammen, doch zum Glück lenkte er diesmal keinen fliegenden Fotoapparat. »Ja, natürlich«, stieß er mit einem gereizten Tonfall in Richtung der grauhaarigen Alten aus, die soeben in ihr Sichtfeld trat. Sie trug einen in die Jahre gekommenen, grauen Mohairmantel, unter dessen unterem Rand gut fünf Zentimeter einer geblümten Kittelschürze sichtbar wurden. Das Fleisch ihrer zart-lila schimmernden Beine wurde von fleischfarbenen Nylonstrümpfen abgequetscht, die sich in schmutzig-weißen Gesundheitslatschen verloren. Sie paffte an einer Zigarette und hielt einen aufgewühlten Rehpinscher, der Ben und Kai angriffslustig anstarrte, an der kurzen Leine.
Ruhrpottoma, dachte Ben, und Kai sagte mit dem Duktus eines coolen TV-Bullen: »Haben Sie etwas beobachtet?«
»Hab ich euch doch schon alles erzählt, hömma«, spie die Alte aus, bevor sie einen rasselnden Hustenanfall bekam, der erst enden wollte, als sie sich dreimal laut hörbar mit der Faust auf die Brust geprügelt hatte. Der Rehpinscher bellte dazu und sprang an seiner kurzen Leine wild im Kreis umher.
»Ich würde Sie bitten, alles noch einmal zu wiederholen. Sehen Sie«, er wies mit ausgestreckter Hand in Richtung Ben. »Hauptkommissar Pruss ist extra aus Wiesbaden angereist, um sich persönlich ein Bild zu machen. Also?«
Ben hätte beim Wort »Hauptkommissar« am liebsten auch einen Kröchelanfall bekommen.
»Wenn Se meinen. Gibt Schlimmeres.« Sie sah sie mit einem gequälten Gesichtsausdruck an, der »Schlimmeres« eindeutig auszuschließen schien. »Ich muss ja abends immer raus, hier mit meinem kleinen Fleischwolf.« Sie lachte krächzend und riss demonstrativ an der Leine, was Fleischwolf zwang, einen Satz nach links zu machen. »Früher brauchte ich um acht das letzte Mal, aber der ist ja schon vierzehn, der Alte, ne? Bin ma gespannt, wer von uns beiden et länger macht.« Sie machte eine Pause, und Ben glaubte schon, sie wolle hier und jetzt warten, wer von beiden es wohl länger machen würde, als sie doch wieder das Wort ergriff: »Ich war jedenfalls abends draußen für Pipi. War gar nich ma so spät. Kurz nach elf.«
»Gestern Abend?«, fragte Ben.
»Wat? Gez wolln Se mich wohl auf’n Arm nehm. Gestern war ich natürlich auch um kurz nach elf draußen wegen Pipi, aber dat wolln Se ja nich von mir wissen, oder?« Sie sah Ben an, als wäre er komplett dem Wahnsinn verfallen. »Sie sind doch hier wegen dem Einbruch am Montag, oder?«
»Klar«, Ben hüstelte verlegen. »Hab ich gestern gesagt? Ich meine natürlich vorgestern. Bitte fahren Sie fort.«
Die Alte nickte und zog ihren Kläffer noch näher an sich heran. Offenbar wollte sie ihn in Sicherheit bringen, für den Fall, dass Ben tatsächlich dem Wahnsinn verfallen war. Dann redete sie nur noch in Kais Richtung, den sie ab diesem Moment wohl für den Vertrauenswürdigeren hielt. »Da hab ich se gesehen. Zumindest einen von denen. Vor de Hecke aufe anderen Seite. Stand da neben so ’nem großen Bulli. Schwarz angezogen, mit Kapuze über de Rübe. Da hab ich den Fleischwolf erstma auf’n Arm. Zum Glück isser ’n lieber, der nich bellt, sonst würd ich wohl heute nich hier stehen.« Sie bückte sich ächzend und nahm ihren Fleischwolf auf den Arm. Dann streichelte sie ihm so heftig den Nacken, dass Ben es wunderte, dass dem Hund an dieser Stelle überhaupt noch Fell wuchs. Er schluckte den Kommentar zum Bellverhalten des Hundes, welches er anders wahrgenommen hatte, vorerst runter.
»Und seine Kollegen ham wohl auf der Seite vom Dauss gestanden. Da is ’ne schmale Lücke zwischen der Hecke und der Wand. Gucken Se mal.« Sie machte eine Geste in Richtung Kai, als wollte sie ihn verscheuchen. Er blickte durch die Zypressen und erkannte die Lücke zwischen Hauswand und Hecke. Zu schmal allerdings, um größere Gegenstände auf die andere Seite zu schieben. Kai nickte die Alte wohlwollend an, und sie redete weiter: »Da hab ich gesehen, dass se so’n großen Schinken durch den Spalt geschoben haben.«
»Einen Schinken?«, sagte Ben verwundert, der das Bild einer gut abgehangenen Schweinekeule mit nach hinten herausstehendem Schenkelknochen vor dem geistigen Auge hatte.
Die Alte sah ihn wieder an, als hätte er eine ansteckende Krankheit. »Ja, so ein riesiges Bild eben. Was weiß ich denn? Rembrandt oder Picasso wahrscheinlich. Der Hüttenking hat doch genug Kohle. Dat ham se dem durche Lücke geschoben, und dann hat der das in Bulli und is wech. Die anderen werden wohl durche Tür, oder was?« Sie zog ratlos die Achseln hoch. »Ich hab schon gesacht, was macht er sich auch so ’ne Hecke hier hin, wo keiner rübergucken kann? Das läd se ja ein, diese Kerle, wenn se machen könn, wat se woll’n.«
»Ja, äh.« Kai schlug sich auf die andere Seite der Zypressenbarriere, und Ben tat es ihm gleich. »Vielen Dank, Frau …«
»Metzger«, sagte die Alte.
»Metzger«, wiederholte Kai und sah mit großen Augen zwischen ihr und Fleischwolf, der angriffslustig hinter Frau Metzgers fleischigen Oberarmen hervorlugte, hin und her. »Wir müssen dann gehen. Bitte halten Sie sich doch in den nächsten Tagen zu unserer Verfügung.«
»Ich erzähl den ganzen Scheiß aber nich noch wieder!«, krächzte sie, ließ den Hund aus einem guten halben Meter zu Boden plumpsen und stampfte die Einfahrt entlang zurück ins Wohnhaus. Ben und Kai hatten sie in wenigen Schritten überholt und liefen zielstrebig die Straße entlang zum Haus der Familie von Dauss.
»Mann! Fleischwolf und Metzger, ich werd nicht mehr«, sagte Ben, und dann schütteten sich beide aus vor Lachen.
Auf dem Klingelschild war kein Name eingetragen. Ben überlegte, welche Worte er wählen sollte, wenn die Tür geöffnet wurde. Irgendwie klang in seinem Kopf alles nach Unfug. Und wahrscheinlich war um diese Zeit ohnehin niemand da. Sicher nur die Putzfrau. Am peinlichsten war ihm der Gedanke, sich als Privatdetektiv vorzustellen. Auch ein Jahr nach seiner beruflichen Neuorientierung hörte sich diese Berufsbezeichnung immer noch wahnwitzig in seinen Ohren an. Er hatte schon genug Probleme damit, sich als Zauberer zu outen. Ich bin Zauberer. Ein Satz, der ihm stets Magenschmerzen verursachte, kurz bevor er ihn aussprach. Was für eine absurde Wortkombination, die in den Hörern die abwegigsten Assoziationen nach weißen Kaninchen, Zylinderhüten, Zauberstäben und Siegfried und Roy hervorrief. Eine Sternstunde der Peinlichkeit. Doch der Satz Ich bin Privatdetektiv stellte sich noch als eine beachtliche Steigerung des Irrwitzes heraus.
Er schluckte das trockene Gefühl in seiner Kehle runter, atmete tief ein und drückte