»Süß, die Kleine«, sagte Kai, nahm einen Schluck aus seiner Flasche und quittierte das Ganze mit einem Rülpser, bevor er weitersprach: »Vielleicht sind das Schauspieler, und die haben irgendwo so einen Staubfänger abgeräumt?«
»Nee. Glaube ich nicht. Zoom mal auf das Teil.«
Kai klickte mit dem Mauszeiger und zog ein Rechteck über den entsprechenden Bildausschnitt. Danach poppte der Bereich in vergrößerter Darstellung auf. Leider unscharf und verpixelt. »Doch, das kenne ich.« Ben tippte unruhig mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. Dann stand er auf und ging zu einem Stapel in der Zimmerecke, der aus losen Papieren, Hängeordnern und Magazinen bestand und so aussah, als würde er bereits bei näherer Betrachtung zusammenbrechen.
»Kein Wunder, dass dich keiner mehr als Detektiv will«, sagte Kai, der Ben dabei beobachtete, wie er behutsam in dem Stapel rumfischte. »Wolltest du zu einem Detektiv gehen, der die Fallakten so lagert?«
»Bis hierhin kommen die ja nicht mal. Und außerdem, sieh du zu, dass du dein eigenes Leben in den Griff kriegst, Siebert.« Ben war genervt, gab seinem Freund jedoch insgeheim recht. Er war sich sicher, dass sein Leben um einiges erfolgreicher verlaufen konnte, wenn er erst mal die Kleinigkeiten auf die Reihe bekäme. Altpapier rausbringen, die Hängeordner in den Schrank hängen, den Staubsaugerbeutel wechseln oder überhaupt mal staubsaugen. »Hier ist es!«, rief er und zog eine blau eingeschlagene, dünne Zeitschrift aus dem mittlerweile bedrohlich wankenden Stapel. Unternehmer vor Ort lautete der Titel, und darunter war ein großflächiges Foto zu sehen, auf dem eine strahlende junge Frau in der einen Hand einen Blumenstrauß und in der anderen genau dasselbe undefinierbare Ding hielt wie der Mann auf dem Foto. Unternehmerpreis 2015 stand in großen Lettern über dem Bild.
»2015? Alter, du musst echt mal ausmisten. Wenn das wenigstens ein Working-Girls-Kalender wäre … und dann war die Zeitung auch noch in der Mitte vom Stapel. Was liegt ganz unten? Deine alten Deutscharbeiten?«
Ben überhörte Kais Gezerre geflissentlich und tippte auf das Bild. »Hier siehst du? Das ist der Dortmunder Unternehmerpreis. Ich wette, die ganzen Preisträger stehen im Internet. Los, mach dich nützlich.« Er zeigte auf den Monitor.
Es dauerte keine halbe Minute, und Kai hatte in der Google-Bildersuche exakt dasselbe Foto aufgerufen. In einem grauen Feld neben dem Bild stand: Der Unternehmerpreis 2015 ging an Richard von Dauss.
»Klar! Richard von Dauss.« Ben schlug seinem Freund fester an die Schulter, als er es beabsichtigt hatte. »Das ist der Hüttenking.«
»Hüttenking?«, fragte Kai, der mit beleidigter Miene seine Schulter massierte.
»Ja. Du weißt auch gar nichts. Das ist der bekannteste Bauunternehmer von Dortmund. Der hat Anfang 2000 in Eving massenweise Sozialbauten hochgezogen. Er selber hat damit richtig Kohle gemacht. Die Wohnungen sind angeblich unter aller Sau. Wenn die in der Zeitung von dem schreiben, dann nennen sie ihn nur den Hüttenking.«
»Ja. Von dem hab ich schon mal gehört. Soll ein richtiger Sack sein. So’n knallharter Geschäftsmann, dem es nur um Profit geht.« Kai lachte kurz auf und sagte dann gespielt bewundernd: »Geiler Typ!«
»Dann könnte mit etwas Glück unsere Lady vielleicht seine Tochter sein«, meinte Ben.
»Und mit noch etwas mehr Glück ist die noch Single und auf der Suche nach einem gut aussehenden Programmierer.«
»Blöderweise gibt’s hier keinen«, feixte Ben.
Kai hatte bereits Richard von Dauss Dortmund Tochter in das Suchfeld eingegeben und einen Artikel geöffnet, in dem genau dasselbe Foto auftauchte. Diesmal mit der Zusatzinformation Links im Bild Richard von Dauss’ Tochter Isana und Ehefrau Elisa.
»Okay, dann brauchen wir bloß noch die Adresse von dieser Isana«, sagte Ben feierlich.
»Und dann? Willst du da hinfahren und die auch stalken, oder was?«
»Ich frag die nach diesem Ivo aus. Komm, such da jetzt. Ich brauche sowieso noch einen Fall für meine Hausarbeit, und da ist ein Stalker doch zehnmal besser als irgend so ein Fremdgeher.«
»Ist ja gut.« Kai tippte wieder. »Ich glaube nicht, dass wir da irgendwas außer der Firmenadresse finden werden.«
Fünf Minuten später hatte sich diese Befürchtung bewahrheitet. Kai griff zum Telefon und wählte eine Nummer. »Brülli? Bist du das, alter Hengst?« Kai zeigte Ben ein breites Grinsen und einen gehobenen Daumen. »Bist du auf Arbeit, Alter? Gut! Dann tipp doch mal Isana von Dauss ein, und sag mir, wo die wohnt.« Er blieb einige Sekunden still, dann sagte er: »Ja, ist mir klar. Und jetzt mach!« Er verschraubte die Augen in Richtung Ben, dann fuhr er fort: »Nichts? Und Richard von Dauss? … Ja, der Hüttenking.« Wieder folgten einige Sekunden Stille »Nee, die private … Warte, schreib ich auf.« Er notierte eine Adresse und eine Telefonnummer auf einem Post-it-Zettel. »Super, Brülli, danke! Hast einen gut bei mir. Lass mal wieder einen heben!« Dann legte er auf.
»Was war das denn, bitte schön?«, wollte Ben wissen.
»Das war Holger Brüllman, Brülli. Alter Kumpel von mir. Arbeitet bei Cater Carlo.«
»Kater Carlo?«
»Nicht Kater. Cater. Das ist doch dieser Cateringservice in Mitte. Klar, dass du den nicht kennst. Ist ja auch für gehobene Ansprüche.« Er gluckste fröhlich. »Beliefern auch die VIP-Lounge beim BVB und so. Ich dachte mir, der von Dauss hat da bestimmt schon mal was bestellt.«
»Clever«, musste Ben zugeben, doch Kai winkte mit einer lässigen Handbewegung ab, dann sagte er: »Wollen wir gleich los? Ich will diese Isana mal live sehen.«
Das Haus lag an einer wenig befahrenen Straßenecke in Gartenstadt. Ben kannte sich hier aus, denn sein Elternhaus lag nicht weit von hier entfernt in der Stangefolstraße. Als Kind hatte er sich in jeder dieser Straßen mindestens einmal blutige Knie geholt. Er konnte sich daran erinnern, dass zwei Häuser neben dem vom Hüttenking Ulli Wenderka gewohnt hatte. Ein Idiot, aber der Einzige mit einem Tangoball und einer Nintendo 64.
Offensichtlich war das Haus erst in den letzten Jahren saniert worden. Ben hatte es noch mit ockerfarbenen Klinkern und falschem Schieferdach in Erinnerung. Heute war es strahlend weiß verputzt und mit kleinen Fenstern versehen, die im Erdgeschoss allesamt vergittert waren. Das Obergeschoss steckte unter einer glänzend blau geziegelten Dachschräge, die unwillkürlich die Blicke auf sich zog. Ben lenkte seinen Ford Fiesta an den von der Straße aus zugänglichen Häuserseiten vorbei in die parallel verlaufende Nebenstraße und parkte dort am Straßenrand. Seine Karre passte neben den ganzen chromblitzenden Vehikeln genauso gut ins Bild wie Mary Roos als Vorgruppe von Justin Biber. Ben und Kai stiegen aus und gingen die Straße entlang. Ein kastenförmiges Mehrfamilienhaus verdeckte die Sicht auf die Rückseite des Hauses, in dem Richard von Dauss wohnte.
»Komm, wir gucken uns das Haus erst mal von hinten an«, schlug Ben vor, dem der Gedanke, an der Haustür der von Daussens zu klingeln, unbehaglich war.
Kai hatte nichts einzuwenden und folgte Ben den schmalen Pfad entlang, der hinter die Nobelmietskaserne führte. Eine breite, undurchsichtige Hecke trennte den adretten, kleinen Garten vom Dauss’schen Grundstück. Ben fuhr mit dem Kopf dicht vor der Hecke hin und her, um eine Lücke zu