BERLIN. Eugen Szatmari. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eugen Szatmari
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783903184817
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in der Leipziger Straße, die preußische Landwirtschaft und Handel werden ebenfalls aus der Leipziger Straße regiert, während sich das Reichsjustizministerium in der Voßstraße befindet. Trotzdem die meisten Ministerien nicht in der Wilhelmstraße liegen, schlägt aber das politische Herz Deutschlands doch hier. Hier werden die Entscheidungen getroffen.

      Besprochen – und zwar ausgiebig – werden sie allerdings am Platz der Republik, in dem großen Bau mit der goldenen Kuppel, der die stolze Aufschrift »Dem deutschen Volke« trägt: im Reichstag. Wer ein Interesse an dem politischen Leben Deutschlands hat, wird gewiss neugierig sein, wie es in diesem Hause aussieht.

      Im Reichstag

      Hat man Glück, so flattern die schwarz-rot-goldenen Fahnen auf den Masten des Parlaments – die Sitzung ist im Gange. Hat man noch mehr Glück, so gibt es auch eine kleine Regierungskrise, was ja nicht allzu selten ist. Und hat man sehr viel Glück und einen Bekannten, der in diesem Palast als M. d. R. oder als Journalist zu Hause ist, so kann man auch eine Tribünenkarte bekommen, ja sogar einen Blick in die Wandelgänge werfen.

      Vor dem Portal in der Simsonstraße, wo sich der Eingang für die Abgeordneten und für die Presse befindet (gewöhnliche Sterbliche können das Haus nur vom Reichstagsufer aus betreten), halten eine Menge Autos, Schupoleute patrouillieren herum und auch ein paar Dutzend Neugierige stehen da, die im Mittagsblatt gelesen haben, dass der Reichstag einen großen Tag habe. Das Thermometer des Reichstags ist aber die Kleiderablage. Sind alle Kleiderhaken besetzt, so muss etwas Wichtiges vorgehen. Denn sonst sieht die Garderobe des Reichstags ungefähr so aus wie die eines Sommertheaters bei gutem Wetter.

      Es geht also etwas vor. Die große Wandelhalle, die mit einem purpurroten Teppich bedeckt ist, wimmelt von Menschen. Ob das alles Abgeordnete sind? Nein, nein – es sind auch welche darunter, die erst Abgeordnete werden wollen, es sind ferner Journalisten darunter, die für die Abgeordneten unentbehrlich sind, da sie zumeist von ihnen erfahren, was eigentlich los ist, es sind Amateurpolitiker darunter, die alle einen fertigen Kompromissplan oder ein Koalitionsprogramm in der Tasche tragen, und es sind schließlich auch politikbegeisterte Damen darunter, die gerade an solchen schicksalsschweren Tagen mit Vorliebe auftauchen. Überall stehen kleine Gruppen beisammen. Man debattiert, man fängt einzelne Worte auf, Namen, Fetzen einer Unterhaltung. Die Stimmung wechselt alle fünf Minuten. Bald ist alles zerschlagen, bald ist wieder alles »in Butter«. Hat man den Topf zerschlagen, so eilt man mit dem Leim, um ihn wieder zusammenzuleimen. Was machen die Sozis? Sie sitzen beisammen. So viel wie im Reichstag wird vielleicht nirgends beisammengesessen.

      Was geschieht? Wird man ablehnen, oder gibt man nach?

      Man kann es nicht wissen. Hier kann man es nie wissen.

      Ein Journalist flitzt durch die Wandelhalle und verkündet eine Neuigkeit: In dem Fraktionszimmer der Demokraten hat soeben ein Kompromissvorschlag das Licht des parlamentarischen Tages erblickt. Bis er aber zum Telefon stürzt, um die Sensation zu melden, ist die Sache nicht mehr wahr. Der Vorschlag ist nämlich schon abgelehnt.

      Lord Breitscheid

      Dr. Breitscheid – neuerdings kurzweg »Lord Breitscheid« genannt – promeniert in der Wandelhalle mit einer jungen Journalistin. Es ist ein sehr ungleiches Paar, denn Breitscheid ist unangefochtenerweise der »größte« Abgeordnete, wogegen besagte Dame ebenso unangefochtenerweise das »kleinste« Mitglied der Reportergarde ist. In einer anderen Ecke sieht man die salbungsvolle Gestalt des Domkapitulars Dr. Leicht von der Bayerischen Volkspartei inmitten einer großen Gruppe. Dr. Dernburg, massig und kraftvoll, versucht einige Volksparteiler umzustimmen. Baron von Lersners schlanke schwarze Gestalt eilt durch die Halle, und Erich Koch, der Chef der Demokraten, zieht sich mit einigen seiner Parteifreunde in eine Ecke zurück. Was mag dort nur vorgehen?

      Nicht weniger reges Leben herrscht in den inneren Wandelgängen, zu denen eigentlich nur die Abgeordneten Zutritt haben sollen. Aber in Krisentagen nimmt man es nicht so ernst mit den Vorschriften, und so schwirren im linken Wandelgang, wo die Sozialisten auf den Plüschsofas beraten, ausländische Korrespondenten herum, die wissen wollen, was sie nach Paris und London, nach Rom und New York melden sollen. Scheidemanns Spitzbart taucht auf und verschwindet wieder im Restaurant …

      Im Restaurant

      Dieses Restaurant! Es ist das Hauptquartier aller Gerüchte und Vermutungen, aller Kombinationen, die niemals wahr sind, aller Aufregungen und Beschwichtigungen. Da sitzt man in aller Ruhe – hübsch nach Parteien getrennt, lässt sich von seinem Stammkellner bedienen, trinkt seinen Kaffee, raucht seine Zigarre und schmiedet Pläne. Da lanciert man alle erdenklichen Namen als Kanzlerkandidaten, vorausgesetzt, dass ein Journalist am Tisch sitzt, denn sonst hat die Sache doch keinen Wert, da setzt man Möglichkeiten und Unmöglichkeiten auseinander und wartet auf die nächste Fraktionssitzung, damit man weiß, wie man sich eigentlich verhalten soll. Denn der einzelne Abgeordnete hat nur in den allerseltensten Fällen eine politische Meinung. Die Meinung hat die Partei …

      Da sieht man plötzlich die hohe Gestalt Hermann Müllers sich erheben und verschwinden.

      Wohin geht er?

      Ein Dutzend Leute fragen sich dasselbe. Einige Beherzte gehen ihm nach, aber Herr Müller ist sehr verschwiegen, und es ist mehr als schwer, aus ihm etwas herauszuholen. Man sieht nur, dass sich ihm der massige Otto Wels angeschlossen hat, man muss sich also wieder setzen, und man kann sich in die schönen Wappen der deutschen Dynastien vertiefen, die ein offenbar sehr begabter Künstler in allen Farben des Herrgotts an die Wand gemalt hat, bis ein aufgeregter Mensch kommt und verkündet: »Hermann Müller ist zum Reichspräsidenten gefahren!«

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       Reichsminister Dr. Stresemann

      Der Einzige, der kühlen Kopf bewahrt

      Man stürzt hinaus und begegnet Außenminister Stresemann, der mit seinem Sekretär, dem jungen Henry Bernhard, und seinem Leibjournalisten, Herrn Josef Reiner, in einer Ecke steht und die politischen Informationen diktiert, die in anderthalb Stunden – mit einer entsprechend fetten Überschrift – die erste Seite des »8-Uhr-Abendblattes« zieren werden. Stresemann ist voller Gemütsruhe, wie meistens, er ist kaum aus der Fassung zu bringen. Früher hat man ihn auch anders gesehen … aber diese Zeiten sind vorbei. Seitdem er den Friedenspreis erhalten hat und seinen Namen für die Weltgeschichte gesichert weiß, ist er der Einzige unter den deutschen Staatsmännern, der wirklich immer einen kühlen Kopf bewahrt.

      Auch Witze werden gemacht. So fragt man einen hohen Beamten des Reichsfinanzministeriums, wer wohl der neue Minister sein wird. Er winkt resigniert mit der Hand. »Gott weiß es allein«, meint er. »Ich weiß nur, dass man sich bei uns bald nicht mehr die Namen der Chefs merken kann … so schnell wechseln sie …«

      Die Macht des Konfekts

      In einer Ecke sitzt Frau Katinka von Oheimb, die jetzt nur noch als Gast hier erscheint. Sie hat stets Konfekt bei sich. Jetzt auch. Sie unterhält sich mit einem bekannten Journalisten. Die Konfektschachtel steht auf dem Tisch und der Mann von der Presse greift öfters danach, denn er muss sich stärken. Als sie sich verabschieden, ist die Schachtel leer. Dafür weiß aber Frau von Oheimb jetzt ganz genau, was sich nicht ereignen wird …

      Plötzlich, ein ohrenbetäubender Lärm. Klingeln rasseln und die Megaphone tuten. Abstimmung. Man eilt in den Saal.

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       Reichstagspräsident Loebe

      Dort thront Herr Löbe auf der Präsidentenestrade mit jener unbeschreiblichen Würde, die nur eine ganze Persönlichkeit zu verleihen vermag. Der kleine dunkle Mann mit der großen Brille, der in Zivil ganz unbedeutend aussieht, wächst in dem Augenblick, wo er oben auf der Estrade sitzt, zu einer Personifizierung des parlamentarischen Geistes. Noch niemals hat der deutsche Reichstag einen solchen Präsidenten gehabt, einen, der in jeder Lage, auch in der schwierigsten, die Würde des Parlaments zu wahren versteht und immer, selbst bei der allerheikelsten Gelegenheit, die richtigen Worte findet.

      Das Aufheben von