Von der Gedächtniskirche führt die Tauentzienstraße am Kaufhaus des Westens vorbei zum Wittenbergplatz und von dort aus geht die Kleiststraße zum Nollendorfplatz, dem Einfalltor des sogenannten Bayerischen Viertels, während die Budapester Straße von der Gedächtniskirche aus an dem eleganten Edenhotel vorbei zum Tiergarten zurückführt.
Aber am Abend …
Det ist Berlin!
Wer in Berlin mehr sehen will als die Gebäude und Denkmäler, wer sich auch für das Leben der Stadt, die er kennenlernen wollte, interessiert, dem rate ich aber, in den Abendstunden, etwa zwischen 6 und 7 Uhr, durch die Tauentzienstraße und über den Kurfürstendamm zu bummeln. Er wird glauben, dass er sich auf einem Pariser Boulevard befindet. Um diese Zeit, wenn die Linden bereits halbleer sind – wenn Untergrundbahn, Autobusse und Straßenbahnen die Menschen aus der einschlafenden City nach dem eben erst zu seinem nächtlichen Leben erwachenden Westen befördern, sind die beiden großen Geschäftsstraßen des Westens voll von Menschen, die Straßen wimmeln, die Konditoreien und Cafés sind überfüllt, vor den Kinos stehen die Menschen Schlange, in den Geschäften herrscht Hochbetrieb, denn hier beginnt das »Shopping« erst um fünf Uhr, und vor den Portalen der Tanzdielen geben die goldbetressten Portiers die bedauerliche Auskunft: »überfüllt«. Die Hast des Tages weicht der Hast des Abends. Wer sich tags beeilte, weil er eine Geschäftskonferenz hatte, beeilt sich jetzt, weil er ein Rendezvous hat. Die Sucht nach dem Vergnügen bricht sich Bahn. Man zerbricht sich den Kopf darüber, wo man hingehen könnte, was man sehen müsste, wo man sich am besten amüsieren werde. Der ganze Kurfürstendamm gleicht einem aufgeregten Ameisenhaufen, während die Fassaden der Häuser in dem schillernden Glanz der Lichtreklame schimmern.
Männlein und Weiblein sucht sich in dem Gewühl. Junge Leute, Studenten, Künstler, Volk aus dem Romanischen Café sieht man und aufgetakelte Berlin W-Damen, die durch goldene Lorgnettes die Schaufenster beäugen. Hunde werden spazieren geführt. Ecke Joachimstaler Straße warten drei Dutzend halbe Pärchen auf die zu spät kommende andere Hälfte. Zeitungsverkäufer verkünden die Titel ihrer Blätter – nur die Titel, denn das Ausrufen des Zeitungsinhalts ist in der Weltstadt Berlin polizeilich verboten, genauso wie in Kötzschenbroda. Alte Herren beraten während ihres abendlichen Spaziergangs die politische Lage, und Finanzfeldherrn in spe studieren, an die Litfasssäule gelehnt, das Kursblatt »Börsen-Courier«. Dazwischen klingelt die Straßenbahn, die Autohupen tuten, die schlecht geschmierten Bremsen quietschen, die gleißende Flut der Lichtreklame blendet das Auge, immer voller und stärker, schwärzer und hastiger quillt der Menschenstrom durch die Straßen, knäuelt sich zusammen und sondert sich ab – bis die Uhr der Gedächtniskirche acht geschlagen hat.
ZWISCHEN WILHELMSTRASSE UND PLATZ DER REPUBLIK
Regierungsviertel und Parlament –
Parlamentarische Stilblüten.
Am Wilhelmplatz, dort wo die Voßstraße von der Wilhelmstraße abzweigt, steht ein baumlanger, hagerer Schutzmann und regelt den Verkehr. Seine besondere Aufmerksamkeit widmet er den Lastkraftwagen, die er unbarmherzig nach der Voßstraße verweist. Zudem steht auch eine Tafel da, mit einem schwarzen Punktzeichen: Für Lastkraftwagen verboten. Lastkraftwagen sind also in diesem Teil der Wilhelmstraße nicht zugelassen. Und das ist richtig so. Denn die Männer, die Deutschlands Geschicke leiten, müssen in Ruhe arbeiten können, und schon die unvermeidlichen Autos machen Lärm genug.
Die Ministerien
Die Wilhelmstraße ist das »Regierungsviertel« Berlins. Die deutsche Downing Street, der deutsche Quai d’Orsay, der Berliner Ballhausplatz. Hier sind die wichtigsten Ministerien untergebracht, hier wohnen Reichspräsident und Reichskanzler, hier werden die Gesetzesentwürfe ausgearbeitet, hier wird der Etat geboren. Das Reichsfinanzministerium befindet sich allerdings an der anderen Ecke des Wilhelmplatzes, die noch nicht vor Lastkraftwagen geschützt ist. Offenbar glaubt die Verkehrspolizei, dass das Finanzministerium eben mehr vertragen kann als die anderen Ministerien. Dem Fremden soll es aber gesagt werden – es ist das Haus Wilhelmstraße 61, wo der Herr Reichsfinanzminister als oberster Kriegsherr aller Steuererklärungen thront, während an der gegenüberliegenden Ecke sich das Haus der Reichsbahngesellschaft erhebt. Das Hotel Kaiserhof ist nun doch Hotel geblieben, obwohl die Geheimräte im Reichsfinanzministerium mit ihren geistigen Augen schon die Seufzerbrücke gesehen haben, die sie aus dem alten Haus des Ministeriums zum Hotel umbauen wollten. Sonst steht von Nichtregierungsgebäuden nur noch eine Bank und das Palais der amerikanischen Botschaft auf diesem Platz. Das Übrige gehört dem Reich und Preußen.
Pressekonferenzen
Im ehemaligen PALAIS LEOPOLD an der Ecke der Wilhelmstraße haust die Presseabteilung der Reichsregierung. Hier versammeln sich jeden Mittag die politischen Redakteure der deutschen Presse, um die Ereignisse der Tagespolitik mit den Vertretern der Reichsregierung zu besprechen. Diese Versammlung ist eine Art Vizeparlament. Auch hier kann man erregte Debatten erleben, auch hier werden manchmal unangenehme Fragen gestellt, und auch hier kann man Ministerreden hören, denn es gibt Minister, die es sich nicht nehmen lassen, die Presse selbst zu informieren. Der wesentlichste Unterschied zwischen der Pressekonferenz und dem Reichstag soll darin bestehen, dass es in der Pressekonferenz kein Restaurant gibt und auch keine Diäten. Aber das kann ja noch einmal nachgeholt werden.
Hier wohnt der Reichskanzler
Gegenüber diesem Palais Nr. 77 wohnt der Reichskanzler in einem schönen Hause, dessen Garten sich bis zur Friedrich-Ebert-Straße erstreckt. Hier hat schon Bismarck gewohnt, die Räume sind groß, geräumig, luftig, die weißen Türen mit Gold verziert, und die Diener tragen stets weiße Handschuhe.
Hier wohnt der Außenminister
Daneben wird in drei Häusern die auswärtige Politik des Reichs gemacht und hier wohnt auch der Außenminister Dr. Stresemann, aber nicht in einem der Palais, sondern in einer Villa, die sich mitten im großen Garten des Ministeriums befindet. Findet bei ihm ein Empfang statt, so fahren die Gäste in der Friedrich-Ebert-Straße vor, wo eine hohe rote Mauer darüber wacht, dass gewöhnliche Sterbliche keinen Einblick in diesen Garten Eden der diplomatischen Genüsse bekommen.
Hier wohnt der Reichspräsident
Im Hause Nr. 73 wohnt der Reichspräsident. Vor dem Gartentor stehen zwei Schupoleute, während am inneren Eingang des Palais zwei Soldaten Wache halten. Hier sind auch die Büros des Reichspräsidenten, die sein treuer Adlatus, Staatssekretär Meißner, verwaltet.
In den gegenüberliegenden Häusern sind verschiedene Reichsbehörden untergebracht, an der Ecke Unter den Linden steht das Haus des Preußischen Ministeriums für Kultur und Unterricht, während einige Schritte weiter, in einem Palais von gelber Farbe, der Botschafter Seiner britischen Majestät zu Hause ist. Der Reichsminister des Innern haust mit seinem Beamtenstab in dem großen roten Gebäudekomplex