Der Kerl im Mantel ließ die Pumpgun loskrachen. Einen Sekundenbruchteil später griff er sich an den Hals. Er taumelte zurück, ließ die Pumpgun sinken. Eine Hand umfasste den Messergriff, der aus seinem Hals herausragte. Blut schoss unter der Strickmütze hervor. Der Mann im Mantel schlug der Länge nach hin.
Die beiden anderen standen für einen Moment wie erstarrt da.
Damit hatten sie nicht gerechnet.
Crazy Joe machte einen Satz hinunter zu den Gleisen. Er rannte.
Er rannte in den dunklen Tunnel hinein.
Einer der beiden Maskierten griff zur Pumpgun, hob sie auf und lud sie durch.
Dann feuerte er.
Die Kugel erwischte Crazy Joe mitten zwischen den Schulterblättern.
Er sank zu Boden und lag dann mitten über den Gleisen.
"Wenn der Zug kommt, wird nicht viel von ihm übrigbleiben", stellte einer der beiden Männer fest.
8
Am nächsten Morgen saßen wir bei Mister McKee im Büro. Außer Milo und mir waren noch die Agenten Clive Caravaggio und Orry Medina anwesend. Max Carter, ein Innendienstler aus der Fahndungsabteilung kam etwas später, zusammen mit einem gewissen Clovis Ortega, den die Scientific Research Division geschickt hatte. Die SRD war der zentrale Erkennungsdienst aller New Yorker Polizeieinheiten, und auch wir vom FBI nahmen seine Hilfe gerne in Anspruch.
Die Untersuchungen am Tatort in den Tunneln unter der Bowery hatten einige interessante Neuigkeiten erbracht.
Die Kollegen der SDR hatten reichlich Projektile eingesammelt, mit denen die unbekannten Killer ja sehr verschwenderisch gewesen waren.
Außerdem gab es dann ja auch noch die Kugeln, die Sid und Brett getötet hatten.
"Eine der benutzten Waffen ist schon einmal aktenkundig geworden", erläuterte Clovis Ortega. "Unsere ballistischen Tests sind da ganz eindeutig."
"Benutzt?", hakte Mister McKee nach. "Wann und wo?"
"Bei einer Schießerei in der South Bronx vor zwei Jahren, als dort ein Drogenkrieg zwischen den Puertoricanern aus East Harlem und den Jamaikanern tobte", erklärte Ortega. "Vor dem Kaufhaus BIG DEAL in der 166. Straße haben sich die Killer-Armeen beider Seiten eine regelrechte Schlacht geliefert... Wem die Waffe gehörte, konnte nie genauer bestimmt werden. Aber da die betreffenden Kugeln in den Körpern einiger Männer steckten, von denen wir wissen, dass zu zum Syndikat der Jamaikaner gehörten, muss es sich um jemanden gehandelt haben, der für die Puertoricaner gemordet hat."
"Da dürfte die Auswahl reichlich sein", kommentierte unser Kollege Medina etwas gallig und lockerte dabei seine Seidenkrawatte ein Stück.
"Es gab damals Dutzende von Verhaftungen", sagte Max Carter. "Ich habe all diejenigen in einem Dossier zusammengestellt, die in irgendeiner Weise mit der Schießerei in Zusammenhang gebracht werden. Viele mussten wieder auf freien Fuß gesetzt werden, einige sitzen noch auf Riker's Island."
"Soweit ich ich das in Erinnerung habe, wurden damals beide Syndikate zerschlagen", sagte Mister McKee.
Carter zuckte die Schultern.
"Wäre ein Wunder, wenn sich die Überreste nicht inzwischen neu gruppiert hätten und irgendwie wieder aktiv geworden wären..."
"Glauben Sie an eine Verbindung zwischen der Todesserie in den Tunneln und dem Drogenmilieu?", fragte ich an Carter gewandt.
Carter schüttelte den Kopf.
"Nein, das eigentlich nicht. Obwohl man es auf der anderen Seite natürlich nicht ausschließen kann, schließlich sind die Drogenbarone immer bestrebt, ihr schmutziges Geld in anderen Branchen anzulegen."
"Aber das sind doch üblicherweise möglichst legale Branchen, damit aus dem Schmutzgeld blütenweiße Dollars werden", wandte Orry ein.
"Andererseits ist das Betreiben einer Transplantationsklinik eine Branche, die sich ebenso für die Geldwäsche eignet wie zum Beispiel das Glücksspiel", wandte Milo Tucker ein.
"Wie auch immer", ergriff Max Carter wieder das Wort.
"Ich glaube eher an eine andere Möglichkeit. Und die besteht einfach darin, dass die Killer von damals sich einen neuen Arbeitgeber gesucht haben, sofern sie durch die Maschen der Justiz schlüpfen konnten." Carter legte sein Dossier auf den Tisch. Er wandte sich an unseren Chef. "Ich schlage vor, dass wir uns jeden einzelnen dieser Leute noch einmal vorknöpfen, gleichgültig, ob sie nun auf Riker's Island sitzen oder sonstwo zu finden sind. Vielleicht bekommen wir so entscheidende Hinweise auf die Drahtzieher im Hintergrund..."
"Oder der Tunnel King sagt uns, was er weiß...", meinte ich.
"Vorausgesetzt, er will mit Ihnen sprechen, Jesse", gab Mister McKee zu bedenken.
"Wer da unten über längere Zeit lebt, ist wohl zwangsläufig nicht sehr kommunikativ", erwiderte ich.
"Ach Jesse", wandte sich jetzt Carter in meine Richtung. "Ich habe vielleicht etwas über den Mann, der sich dir gegenüber Crazy Joe nannte."
Ich hob die Augenbrauen.
Carter holte aus einem Aktenkoffer eine Mappe hervor, die mit Computerausdrucken gefüllt war. Er öffnete sie. Ich blickte auf ein Foto, das ein bärtiges Gesicht zeigte.
"Ist er das, Jesse?"
Ich nickte. "Ja."
"Er heißt Joseph Kelvin Mendrovsky, wurde in Wichtita, Texas geboren und mit Mitte dreißig in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen. Er litt unter Verfolgungswahn. Vor fünf Jahren brach er aus dem St. George Sanatorium in Dorset, Kentucky aus. Seitdem fehlt jede Spur von ihm..."
Ich nahm das Dossier an mich, warf einen Blick hinein.
"Ich will dir damit nur sagen, dass dieser Tunnel King vielleicht nur die Fantasie eines seelisch Kranken ist...", fuhr Carter indessen fort.
Ich mochte an diese Möglichkeit einfach nicht glauben.
Schließlich war Crazy Joe nicht der einzige, der vom Tunnel King erzählt hatte. Andererseits konnte es natürlich gut sein, dass auch diese Berichte nur auf dem basierten, was Joe in den Jahren, die er bereits bei den Mole People lebte, an Geschichten ausgestreut hatte. Geschichten, die sich längst verselbständigt hatten...
Ich hatte keine Gelegenheit, länger darüber nachzudenken.
In diesem Augenblick kam Mandy, die Sekretärin unseres Chefs in den Raum. Auf dem Tablett standen dampfende Kaffeebecher und einige geöffnete Kuverts.
Die Post für Mister McKee. Zweifellos hatte sich erst unsere Sicherheitsabteilung damit beschäftigt, um zu verhindern, dass Mister McKee zusammen mit einem dieser Hassbriefe eines Tages auch eine Ladung Sprengstoff auf den Schreibtisch bekam.
"Diesmal war nichts dabei, Mister McKee", sagte Mandy mit sichtlicher Erleichterung. Sie brauchte das nicht näher zu erläutern. Jedem im Raum war klar, wovon sie sprach.
Mister McKee war das Schweigen, das sich plötzlich im Raum ausgebreitet hatte offenbar unangenehm.
"Was ist