Ich setzte zum Spurt an, überquerte die Dover Street.
Der flüchtende Killer feuerte in meine Richtung.
Der Schuss verfehlte mich knapp. Ich duckte mich, schoss mit meiner SIG zurück und ging dann hinter dem ersten Betonpfeiler in Deckung.
Ein schwarzer Volvo bog mit quietschenden Reifen um die Ecke. Ein Wagen dieses Typs war mir bereits aufgefallen, als ich in der Font Street in Evita Jacksons Porsche gestiegen war. Offenbar war er uns gefolgt. Ich hatte dem Volvo zuvor leider keine Bedeutung beigemessen.
Die Scheiben waren getönt.
Es war unmöglich, zu erkennen, wie viele Personen sich im Inneren befanden.
Eine der Scheiben senkte sich einen Spalt.
Etwas Metallenes ragte einige Zentimeter hinaus.
Zweifellos der Lauf einer Waffe.
Eine MPi knatterte in den nächsten Sekunden los.
Der Schütze feuerte in meine Richtung. Ich warf mich zu Boden, rollte mich dort herum. Die Schüsse gingen haarscharf an mir vorbei.
Der Volvo raste weiter.
Mit einem mörderischen Tempo schnellte er in Richtung der Auffahrt zur Brooklyn Bridge.
Ich riss die SIG herum, erwartete eigentlich von der anderen Seite ebenfalls unter Feuer genommen zu werden.
Aber der Killer, der Evita Jackson auf dem Gewissen hatte, war verschwunden. Er hatte die Gunst des Augenblicks genutzt. Offenbar war er kein großer Nahkämpfer, sondern lauerte lieber in sicherer Entfernung auf sein Opfer, um es in aller Ruhe mit einem Spezialgewehr abschießen zu können. Ich rappelte mich auf, rannte weiter zwischen den Betonpfeilern hindurch. Von dem Killer sah ich keine Spur mehr.
Aber ich dachte nicht daran, so schnell aufzugeben.
Ich nahm mit der Linken das Handy, betätigte eine Schnellwahltaste und war einen Augenblick später mit dem Field Office verbunden, um Verstärkung zu rufen.
Ganz in der Nähe, zwischen Police Plaza und Madison Avenue, befanden sich die Headquarters der City Police. Mit etwas Glück konnte das Gebiet um die Brooklyn Bridge und ihre verschiedenen Auffahrten schnell genug von NYPD-Einsatzkräften abgeriegelt werden.
Ich rannte weiter, musste dabei aber auf der Hut bleiben.
Schließlich konnte sich der Killer ja auch hinter einem der Betonpfeiler versteckt halten und auf mich lauern.
Der Verkehrslärm der Brooklyn Bridge war hier unten geradezu ohrenbetäubend. Das Areal unter der Brücke wirkte wie eine Art Klangkörper.
Schließlich erreichte ich eine grasbewachsene Böschung, die zu einer steil ansteigenden Straße hinaufführte. Es musste sich um die Avenue of the Finest handeln, eine auf Highway-Breite ausgebaute Auffahrt zur Brooklyn Bridge.
In letzter Sekunde sah ich den Killer oben hinter der Leitplanke lauern. Der Strahl des Laserpointers warnte mich. Ich warf mich zu Boden. Das Gras war hoch. Offenbar war die Böschung schon seit Monaten nicht mehr gemäht worden. Der erste Schuss verfehlte mich nur knapp. Der Zweite ging sehr viel deutlicher daneben.
Ich riss die SIG empor, feuerte zurück.
Der Killer zog sich zurück.
Ich rappelte mich auf, hetzte die Böschung empor.
Augenblicke später erreichte ich die Leitplanken, stieg hinüber. Ein schmaler Mehrzweckstreifen lag zwischen den Leitplanken und der Fahrbahn. Es herrschte nur mittleres Verkehrsaufkommen. Ein Versuch, als Fußgänger die Avenue of the Finest zu überqueren war dennoch selbstmörderisch.
Aber der flüchtige Killer setzte offenbar alles auf eine Karte.
Er stand mitten auf der Fahrbahn.
Zum ersten Mal sah ich deutlich sein Gesicht.
Der Kerl war Mitte dreißig, hatte gelocktes Haar und trug einen Drei-Tage-Bart.
Autofahrer hupten, Fahrzeuge wichen dem Kerl aus. Er drehte sich in meine Richtung, erblickte mich und legte augenblicklich sein Gewehr an. Ein Spezialsturmgewehr für Army-Scharfschützen vom Typ M77.
Sein Schuss war schlecht gezielt und verfehlte mich. Der Killer hatte mehr oder weniger aus der Hüfte gefeuert. Ich konnte nicht zurückschießen. Die Gefahr für die unbeteiligten Autofahrer wäre einfach zu groß gewesen.
Aus Richtung Police Plaza näherte sich ein Helikopter.
Sirenen waren aus der Ferne zu hören.
Der Killer feuerte noch einmal in meine Richtung. Ich duckte mich.
Die Seitenscheibe eines vorbeifahrenden Vans zersprang.
Der Killer rannte vorwärts.
Ein Geländewagen vom Typ Maverick raste heran, bremste. Die Reifen quietschten.
Der Killer wurde vom Kuhfänger erfasst und schreiend durch die Luft geschleudert.
Ein zweiter Wagen bremste, rutschte von hinten in den Maverick hinein. Ein Lastwagen stellte sich mit quietschenden Reifen quer.
Binnen weniger Sekunden kam der Verkehr zum erliegen. Hier und da gab es kleinere Auffahrunfälle.
Ich spurtete los, hatte den am Boden liegenden Killer nach wenigen Augenblicken erreicht.
Er lebte noch. Aber der Zusammenprall mit dem Kuhfänger des Maverick hatte ihn schwer verletzt.
Den linken Arm vermochte er offenbar nicht mehr zu bewegen. Die Kleidung war blutverschmiert. Das Sturmgewehr war ihm aus der Hand geschleudert worden, lag jetzt ein paar Meter von ihm entfernt auf dem Asphalt.
Der Killer drehte sich stöhnend in meine Richtung, griff unter seine Jacke.
"Stecken lassen!!", rief ich. "FBI! Keine Bewegung!"
Er riss eine großkalibrige Automatik aus dem Hosenbund.
Die Mündung zielte auf mich.
Sein Zeigefinger spannte sich um den Stecher, der Knöchel wurde weiß.
Über uns knatterte der NYPD-Helikopter. Er sank tiefer. Der Wind, der dadurch verursacht wurde, riss an den Kleidern.
Eine endlos lange Sekunde herrschte ein Patt zwischen dem Killer und mir. Dann senkte er die Waffe. Er sah offenbar ein, dass er keine Chance hatte, mich zu erschießen, bevor ich ihn mit meiner SIG erwischte.
Ich trat auf ihn zu, nahm ihm die Waffe ab und durchsuchte ihn. Er hatte einen Führerschein bei sich, der auf den Namen Michael DiAngelo ausgestellt war. Außerdem ein Prepaid-Handy. Es war eingeschaltet. Ich ging in das Menue. Dass ich dabei vielleicht Spuren vernichtete, die unsere Kollegen aus den SRD-Labors für wichtig hielten, nahm ich bewusst in Kauf.
Denn die Jagd war noch nicht beendet...
Nach kurzer Zeit hatte ich herausgefunden, dass Michael DiAngelo das letzte Gespräch erst vor wenigen Augenblicken geführt hatte. Die Nummer gehörte ebenfalls zu einem Mobiltelefon. Wahrscheinlich auch ein Gerät, das über eine im Voraus bezahlte Simcard lief, sodass der Benutzer nicht identifizierbar war.
Ich stellte eine Verbindung zu diesem Apparat her.
"Michael? Scheiße, was ist los?", fragte eine Männerstimme.
"Wo seid ihr?", fragte ich.
Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Ich hörte, wie jemand atmete, als wollte er etwas sagen. Aber es blieb still. Im Hintergrund war ein Motorengeräusch zu hören. Mit wem immer ich auch telefonierte, er befand sich in einem Wagen. Und ich hätte meine SIG dafür verwettet, dass es sich dabei um einen schwarzen Volvo handelte...
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Ich