Damals habe er mit Nachbarskindern im Keller seines Elternhauses Gott und Engel spielen wollen. Alle hätten sie gemeinsam Stühle zusammengetragen und diese auf einen großen Tisch bis knapp unter die Kellerdecke getürmt. Er habe in dem Spiel Gott sein wollen. Die anderen hätten ihm dabei geholfen, auf den obersten Stuhl zu klettern und dort Platz zu nehmen. Singend seien sie dann um den Tisch gelaufen, ihre Arme wie Flügel um sich schlagend. Plötzlich sei von einem der Kinder die Frage an ihn gerichtet worden, warum er selbst nicht flöge. Moreno habe daraufhin seine Arme ausgebreitet und sich nur einen Augenblick später mit einem gebrochenen rechten Handgelenk auf dem Boden wiedergefunden (vgl. Moreno 1946a, p. 2).
Eindrücklich führt uns diese Geschichte die Bedeutung der Realitätsprobe vor Augen. In der Surplus Reality lassen sich spontan kreative Lösungswege ausprobieren, von denen der eine oder andere sogar geeignet sein mag, erfolgreich in der äußeren Realität umgesetzt zu werden. Dies aber bedarf stets der Überprüfung. Werden die gefundenen Lösungswege kritiklos auf das Leben draußen übertragen, besteht die Gefahr, kläglich mit ihnen zu scheitern, sich gar mehr Probleme einzuhandeln, als vorher bestanden.
Und einen weiteren Stolperstein gilt es zu umgehen. Moreno war sich dessen Existenz durchaus bewusst. Zwar steht bei ihm die integrative Katharsis zweifellos im Vordergrund. Daneben kommt in seinem Psychodrama allerdings weiterhin auch die Abreaktion vor (vgl. Masserman a. Moreno 1960, p. 19 f.; vgl. Krüger 1997, S. 74 f.; vgl. Hutter u. Schehm 2012, S. 160). Hierbei führt Handeln zur Entladung angestauter Affekte (siehe Abschnitt 1.1.1). Von einer solchen Abreaktionskatharsis14 in einer Psychodrama-Sitzung, die nach Morenos Tod an seinem Schaffensort in Beacon, im Staat New York, stattfand, berichtet der Arzt und Psychologe Andreas Ploeger.
Ein 35-jähriger Arzt hätte dort beklagt, sich in der Schule von seiner Lehrerin ungerecht behandelt und gegenüber seinen Mitschülern zurückgesetzt gefühlt zu haben. Daraufhin wären Szenen aus seiner Schulzeit auf die Bühne gebracht worden. Sie hätten ihm deutlich gemacht, dass es nicht die Lehrerin war, die ihn zurückgewiesen hatte. Er hatte sie nur wie seine Mutter erlebt, die ihm die Geschwister ständig vorgezogen und ihn hintangestellt hatte. Auch diese Kränkungen wären in Szene gesetzt worden. Dabei hätten sich die anderen Gruppenteilnehmer vorbehaltlos auf seine Seite gestellt und den Jungen in seiner Wut auf die Mutter bestärkt. Dann wäre er aufgefordert worden, sich die Mutter vor der eigens dafür präparierten rückwärtigen Wand des Bühnenraumes vorzustellen, um an ihr nun seine angestauten Aggression en abzulassen. Ermutigt durch die Zurufe der Leiterin und der anderen Teilnehmer, hätte er dieser dann bis zur Erschöpfung wüste Beschimpfungen sowie eigens dort für solche Aktionen bereitgehaltene verbeulte Bleche entgegengeschleudert. Am Ende der Sitzung hätten alle Beteiligten das Wohlgefühl geteilt, »reinen Tisch« gemacht zu haben (vgl. Ploeger 1983, S. 33).
Dieses Fallbeispiel von Ploeger illustriert prägnant, welch zweischneidiges Schwert die Abreaktionskatharsis tatsächlich ist. Einerseits gelingt es mit ihr sehr erfolgreich, Dampf abgelassen. Das wirkt zunächst einmal erleichternd – und zwar nicht nur für den, der sein Thema eingebracht hat, sondern auch für die anderen. Ploeger vergleicht das Gefühl, das sich hernach zumeist bei allen einstelle, mit der Zufriedenheit einer siegreichen Sportmannschaft (vgl. Ploeger 1983, S. 34; 1990, S. 95 f.).
Andererseits werden die angestauten Affekte in der Abreaktionskatharsis nur ausagiert. Damit verhindert sie leider nicht, dass sich künftig wieder neuer Druck aufbaut. Dazu müsste es ihr gelingen, an dessen Entstehungsbedingungen anzusetzen und diese zu bearbeiten (vgl. Ploeger 1983, S. 33). Das jedoch bleibt außen vor. Die daraus resultierende Gefahr sei, so Ploeger, offenkundig: Der Konflikt zwischen dem Klienten und seinen Bezugspersonen werde geschürt anstatt gelöst, die Front unnachgiebig verhärtet anstatt infrage gestellt, der Klient einseitig gegen seine Angehörigen gestärkt (vgl. Ploeger 1983, S. 32; 1990, S. 94). So kommt am Ende einer solchen Sitzung zu Recht die Frage auf, wie der Klient denn wohl in Zukunft mit jenen umgehen wird, an denen er soeben seine Affekte derart heftig abreagiert hat (vgl. Ploeger 1983, S. 32 f.; vgl. Scheiffele 2008, S. 152). Ein Problem, das Moreno schon erkannt hatte (siehe Abschnitt 1.1.1). Auch für ihn trug die Abreaktion nicht dazu bei, Symptome zu heilen. Sie würden allenfalls in ihrer Ausprägung gelindert, blieben aber grundsätzlich erhalten, oft sogar hartnäckiger als zuvor (vgl. Moreno 1950, p. 9). Aus diesem Grund wandte sich Freud später selbst von dieser Form der Katharsis ab. Sie wirkte eben nur symptomatisch, nicht kausal. Die Bedingungen, die den eingeklemmten Affekt en ursächlich zugrunde lägen, blieben unbeeinflusst (vgl. Freud u. Breuer 1925b, S. 186; 1925a, S. 24).
Freud war nicht der Einzige, der andere Wege einschlug, nachdem er die Abreaktionskatharsis eine Weile praktiziert hatte. Auch Ploeger machte zunächst Erfahrungen mit ihr. Allerdings wendete er dabei keine Hypnose an, wie Breuer und Freud es noch getan hatten. Ploeger war am Psychodrama interessiert. Erste Gehversuche auf diesem Terrain machte er ab 1961 an der Universitäts-Nervenklinik Tübingen im Rahmen der dortigen stationären Psychotherapie. Seitdem ließ ihn das Psychodrama nicht mehr los. Mit seinem Wechsel an die RWTH Aachen setzte er es ab 1969 als Oberarzt der Abteilung für Psychiatrie und von 1977 bis zu seiner Emeritierung als Lehrstuhlinhaber des Fachbereichs Medizinische Psychologie ein. Wie Ploeger erklärt (vgl. Ploeger 1979, S. 841; 1983, S. 15), hättener und seine Mitarbeiter anfangs in Tübingen versucht, biografische Begebenheiten eines der Klienten der Therapiegruppe im Stegreifspiel zu reproduzieren und auf diese Weise die damit einhergehenden Konflikte zu entschärfen. Die Wirkweise sei die Katharsis, also die entlastende Abreaktion emotional-affektiver Stauungen gewesen, die der Betreffende im Leben draußen, aus welchen äußeren oder inneren Gründen auch immer, nicht zu entladen vermochte. Hierzu sei er erst durch die beschützende Scheinwelt des Psychodramas befähigt worden. Denn diese Welt habe ihn vor ernsthaften Bedrohungen bewahrt, die sich sonst bei affektiven Entladung en im Leben außerhalb der Therapie einzustellen pflegten. Bis hierher wären sie noch ganz Moreno gefolgt. Aber dann hätten sie sich dazu veranlasst gesehen, neue Wege zu beschreiten. Die Wende in ihrer Psychodrama -Technik habe ungewollt der Psychoanalytiker Wolfgang Loch herbeigeführt (vgl. Ploeger 1983, S. 10). Loch war damals Inhaber des ersten Lehrstuhls für Psychoanalyse und Psychotherapie in Deutschland. Diesen hatte man eigens für ihn an der Universität Tübingen eingerichtet. Seinerzeit seien von ihm, so Ploeger weiter, Balint-Gruppen15 für Mitarbeiter durchgeführt worden. Die Anregungen, welche er ihnen dort gegeben habe, hätten sie gelehrt, das Psychodrama aus der Sicht der Psychoanalyse zu beurteilen. Noch in Tübingen hätten sie deshalb damit begonnen, es grundlegend umzugestalten. Diese Ve ränderungen seien dann später an der RWTH Aachen fortentwickelt worden (vgl. Ploeger 1983, S. 10, 15).
Nun ist Moreno ebenfalls mit der psychoanalytischen Sichtweise konfrontiert worden. Freud kannte er sogar persönlich, weil er einmal dessen Vorlesung besucht hatte (vgl. Moreno, Moreno a. Moreno 1964, pp. 16 f.). Dieser verabschiedete damals jeden einzelnen seiner Hörer persönlich an der Türe und nutzte dabei die Gelegenheit, ein paar Worte mit ihnen zu wechseln (vgl. Schur 1973, S. 9). Dabei soll er Moreno gefragt haben, was er mache, was seine beruflichen Interessen seien. Moreno habe ihm geantwortet:
»Nun, Dr. Freud, ich beginne, wo Sie aufhören … Sie analysieren die Träume (der Menschen). Ich gebe ihnen den Mut, wieder zu träumen. Ich lehre sie, wie sie Gott spielen können« (vgl. Moreno 1946a, pp. 5 f.; vgl. Hutter u. Schwehm 2012, S. 96).
Das klingt nun nicht gerade so, als ob Moreno damals bereit gewesen wäre, sich auf Freuds Sichtweisen einzulassen oder diese gar in sein Psychodrama zu integrieren.