Der Vergleich macht es deutlich: Moreno hat mit seinem Katharsisbegriff auf die Wortbedeutung bei Breuer und Freud zurückgegriffen. Ganz in ihrem Sinne versteht er sie als ein Ausspielen, ein aktives und strukturiertes Ausleben, das zwar nur vorübergehend, nichtsdestotrotz sehr effektiv von Affekt en befreit, die zu irrationalem Handeln führen können. Doch das ist nicht das Einzige, wozu Morenos Katharsis in der Lage ist …
1.1.2Morenos Katharsis geht über die von Breuer und Freud hinaus
In Morenos Psychodrama soll sich die Katharsis keineswegs auf die Abreaktion beschränken. Sie bedeutet hier weit mehr, als sich einiger Affekte zu entledigen. Wäre das nämlich ihr alleiniger Gewinn, bestünde darin, so Moreno, auch eine Gefahr. Denn die Abreaktion trüge nicht dazu bei, Symptome zu heilen. Allenfalls würden sie in ihrer Ausprägung gelindert, blieben aber grundsätzlich erhalten, oft sogar hartnäckiger als zuvor.12 Daher erschöpfe sich, wie die Psychodramatiker Christoph Hutter und Helmut Schwehm erklären, die Katharsis bei Moreno nicht in der Abreaktion (vgl. Hutter u. Schwehm 2012, S. 160). Hier geschehe deutlich mehr. So bestätigt es auch der Psychodramatiker Eberhard Scheiffele. Vorrangiges Ziel der Katharsis in Morenos Psychodrama sei nicht, bestimmte Affekte, sondern eher Blockaden und Hemmungen loszuwerden (vgl. Scheiffele 2008, p. 111). Genau dazu befähigt dort der Schein der Bühne. Er gewähre die Freiheit des Ausdrucks, erlaube, frei zu handeln, wie es einem gerade in den Sinn komme, so Moreno (vgl. Moreno 1988, S. 78). Hier könne man alles Hinderliche – veraltete Vorstellungen und Gewohnheiten, Konditionierungen oder Rollen – hinter sich zurücklassen (vgl. Moreno 1947, p. 66; vgl. Scheiffele 2008, p. 64) und stattdessen volle und ungehemmte schöpferische Spontaneität erfahren (vgl. Moreno 1946a, p. 111; 1988, S. 78). Denn nicht Schnelligkeit oder gar Impulsivität charakterisieren bei Moreno die Spontaneität (vgl. Moreno et al. 2000, p. 12), wie es die Wortbedeutung von spontan – »aus eigenem Antrieb« – nahelegen könnte. Vielmehr erkennt er in ihr die Bereitschaft (vgl. Moreno 1946a, p. 85, 111), frei zu handeln, alte, ausgetretene Pfade verlassen und angemessene Antworten auf neue Situationen bzw. neue Antworten auf alte Situationen finden zu können (vgl. Moreno 1946a, p. XII, 50; 1953, p. 42; 1988, S. 34). Im Erleben seiner vollen und ungehemmten schöpferischen Spontaneität habe das eigene Ich, wie Moreno erklärt, die Gelegenheit, sich zu finden und wieder zu ordnen, die Elemente zusammenzusetzen, die durch tückische Kräfte auseinandergehalten waren, sie zu einem Ganzen zu fügen und ein Gefühl von Macht und Erleichterung zu gewinnen, eine Katharsis der Integration, eine Reinigung durch Vervollständigung (vgl. Moreno 1988, S. 83; 1950, p. 4). Sie bereichere das eigene Leben, alles, was man getan habe und tue, um den Aspekt des Schöpfers (vgl. Moreno 1988, S. 89).
Deshalb spricht Moreno auch von kreativer Katharsis (vgl. Buer 2010, S. 50). Sie vervollständigt, indem sie sämtliche kreativen Kräfte schöpferisch wirksam werden lässt, auch solche, die im Leben draußen blockiert waren (vgl. Leutz 1974, S. 141). Nichts muss mehr zurückgehalten werden. Alles darf kreativ Gestalt annehmen. Der Schein der Bühne werde, so Moreno, zur Entfesselung des Lebens (vgl. Moreno 1924, S. 77 f.; 1988, S. 89) oder, wie es an anderer Stelle bei ihm heißt, zu einer »totalen Inszenierung des Lebens«.13 Kein Weg ist hier versperrt. Jeder kann sich hier schöpferisch ganz erleben. Moreno spricht von Reinigung durch Vervollständigung (Moreno 1988, S. 83). Wir könnten auch Heilung dazu sagen. Von der Wortbedeutung her ist Heilung nämlich als ein »Ganz-Werden« zu verstehen. Doch Moreno geht sogar darüber noch hinaus. Für ihn heißt »Ganz-Werden« zugleich »Gott-Werden«. Denn in Gott sei alle Spontaneität Kreativität geworden (vgl. Moreno 1953, p. 39). Der Mensch erfährt also bei More no mit der Katharsis durch Vervollständigung nicht nur Heilung, sondern geradezu Vergöttlichung. So lässt sich auch sein Ausspruch verstehen, dass er täglich Gottes Komödiant werde, um im Wahn himmlischen Lebens Gott zu sein (Moreno 1919, S. 49) – ein Gedanke, der auf uns vielleicht etwas befremdlich wirken mag, für jemanden wie Moreno, der aus der jüdischen Tradition der Chassidim stammte (vgl. Geisler 1 989, S. 45), jedoch völlig natürlich war. Denn der jüdische Mensch gelte dort gerade deshalb als Ebenbild Gottes, so die Psychodramatikerin Friedel Geisler, weil er die Welt »gottgleich« kreativ und spontan schöpferisch gestalte (vgl. Geisler 1989, S. 55).
Ein solches »Gott-Werden« verändert die Perspektive. Und das wirkt sich zweifellos auf den »Gott-Gewordenen« aus. Wie genau, erklärt Moreno so: Auch beim zweiten Mal im Psychodrama werde – zum Schein – gesprochen, gegessen, getrunken, gezeugt, geschlafen, gewacht, geschrieben, gestritten, gekämpft, erworben, verloren, gestorben. Doch derselbe Schmerz wirke auf Spieler und Zuschauer nicht mehr als Schmerz, dieselbe Begierde nicht mehr als Begierde, derselbe Gedanke nicht mehr als Gedanke, sondern schmerzlos, bewusstseinslos, gedankenlos, todlos (vgl. Moreno 1924, S. 75–78; 1988, S. 89). Wenn jetzt alles möglich sei, dann sind die einstigen Qualen gegenstandslos geworden, wirken nun sogar lächerlich. Daher bringe, wie Moreno ergänzt, das erste Mal durch ein solches zweites Mal zum Lachen. Jede Gestalt aus Sein werde durch sich selbst in Schein aufgehoben und Sein und Schein gingen in einem Lachen unter (vgl. Moreno 1924, S. 75–78; 1988, S. 89). Dies sei das wahre zweite Mal, was vom ersten befreie (vgl. Moreno 1924, S. 77; 1988, S. 89). Jenes wahre zweite Mal kann allerdings nur vom ersten befreien, wenn es auf der Bühne des Psychodramas in einer besonderen Realität stattfindet.
1.1.3Surplus Reality ist notwendig für Morenos Katharsis
Der Schein der Bühne soll dazu befähigen, frei zu handeln, wie es einem gerade in den Sinn kommt, ohne dafür ernsthafte Folgen tragen zu müssen (vgl. Moreno 1988, S. 78). Eines ist klar: Unsere Alltags realität kann hier kaum gemeint sein. Jene Realität, die Moreno für sein Psychodrama fordert, sprengt zweifellos ihren Rahmen, geht weit über sie hinaus. Deshalb gab er ihr wohl auch den Namen surplus reality. Das Wort surplus wurde von ihm nämlich in Anlehnung an den Begriff des Mehrwertes – engl. surplus value – bei Karl Marx verwendet (vgl. Moreno 1965, p. 212). Danach würde Surplus Reality so etwas wie »Mehrwert-Realität « bedeuten. Moreno selbst übersetzt sie in seinem Werk Gruppenpsychotherapie und Psychodrama mit »Überschuss-Realität « (vgl. Moreno 1988, S. 83). Leider hat er nur wenig zu ihr geschrieben. Angesichts der zentralen Bedeutung, die die Surplus Reality für sein Psychodrama hat, mag das durchaus überraschen (vgl. Moreno et al. 2000, p. ix; vgl. Watersong 2011, p. 18). Fügen wir zusammen, was über sie in Morenos Schriften zu finden ist, dann soll sie den Menschen mit einem »Mehr« an Realität versehen, als ihm das Leben erlaubt (vgl. Moreno 1988, S. 93), ihm eine neue, erweiterte Erfahrung von Wirklichkeit vermitteln (vgl. Moreno 1950, p. 4; 1988, S. 83). Denn Realität und Fantasie stünden hier nicht in Konflikt (vgl. Moreno 1946a, p. a.; 1946b, p. 249; 1953, p. 82), ganz im Gegenteil: In der Surplus Reality werde die Imagination zur Realität der Bühne (vgl. Moreno 1965, p. 212; vgl. Watersong 2011, p. 18). So beschreibt sie auch Morenos dritte Ehefrau – Zerka Toeman Moreno (vgl. Moreno et al. 2000, pp. 1 f., 20) –, die die Arbeit ihres Mannes über Jahrzehnte als Co-Therapeutin und Mitautorin begleitete. Ergänzend fügt sie hinzu, dass die Surplus Reality die Darstellung jener Dimensionen, Rollen, Szenen und Interaktionen erlaube, die das Leben weder zulassen konnte noch kann und die es vermutlich auch in Zukunft nicht gestatten wird (vgl. Moreno 1979, S. 33; vgl. Moreno et al. 2000, p. 5). Geschehe dies, bewirke das sog ar die tiefste Form der Katharsis (vgl. Moreno et al. 2000, p. 18).
Die Surplus Reality gestaltet sich also offenbar getreu dem Motto »anything goes«. Ein wenig mag das an die Methode des Brainstormings zur Ideenfindung erinnern. Nur dass diese hier nicht gedanklich in den Raum gestellt, sondern bereits in die Tat umgesetzt präsentiert werden. Doch Vorsicht …
1.1.4Schein ist nicht gleich Sein
Was im Schein der Bühne funktioniert, muss im Leben draußen keineswegs gelingen. Das »anything goes« mag für die Surplus Reality des Psychodramas gelten. Anzunehmen, dass es auch auf die äußere Realität zutrifft, wäre ein verhängnisvoller Fehler. Auch das Brainstorming kreiert zunächst ein Feuerwerk