Christoph, der junge Mann mit dem Hörsturz aus Zimmer 213 wäre in einer psychosomatischen Klinik besser aufgehoben als bei uns mit nur Infusionstherapie.
Frau Schrezenmeier wird morgen ins Pflegeheim verlegt und ich hatte keine Zeit mich von ihr zu verabschieden, es herrscht Ausnahmesituation in der Klinik. Wegen Umbauarbeiten wurden vorübergehend zwei Stationen geschlossen und die Patienten auf die Innere verlegt. Ich bin die ganze Nacht gerannt, gerannt, gerannt, habe zwischendurch immer wieder Kaffee getrunken und Schokolade in mich reingestopft.
Früher habe ich Partys gefeiert und problemlos noch die Nachtschicht angehängt. Das ist heute nicht mehr drin bei mir. Der aufgezwungene Fremdrhythmus der Wechselschichten fordert seinen Tribut. Nachtschicht von 20.30 bis 6.30 Uhr. Tagesschicht von 12.30 bis 21.00 Uhr. Frühschicht von 5.30 bis 14.00 Uhr. Sieben Nächte musste ich am Stück arbeiten, jetzt folgt ein mehrtägiger Freizeitblock, ich muss aber in Rufbereitschaft bleiben.
Ich schäle mich aus dem Bett, bewege mich schlaftrunken Richtung Küche und schalte die Kaffeemaschine ein. Mein Magen knurrt wie bei einem hungrigen Wolf. Ich öffne den Kühlschrank, gähnende Leere blickt mir entgegen, ich hatte wieder einmal keine Zeit, um einkaufen zu gehen, esse wieder Schokolade. Lustlos hole ich den Karton mit den Faschingsutensilien aus dem Dielenschrank und krame nach dem königsblauen CorsagenTanz-Kostüm. Ich werde es aufbügeln müssen, es ist total zerknittert. Auch das noch! Ich werfe das Kleid in den Karton zurück, nehme zwei Schlaftabletten aus der Packung, spüle sie mit Wasser hinunter und begebe mich wieder Richtung Bett. Ich will schlafen! Nur noch schlafen!
Wie in Watte gepackt höre ich eine Melodie. Meine Haustürklingel? Mein Blick streift den Wecker auf meinem Nachttisch, ich schaue irritiert auf das Zifferblatt. 19.00 Uhr. Es ist meine Haustürklingel! Mit einem Satz springe ich aus dem Bett und betätige den Türöffner im Flur. Es dauert keine zwei Minuten, dann steht meine Freundin schon vor mir.
»Du bist ja noch nicht einmal angezogen, Margit«, meckert Barbara, drückt sich an mir vorbei und stellt zwei prall gefüllte Plastiktüten auf den Küchentisch.
»Dein Kühlschrank ist doch bestimmt wieder lotterleer«, stichelt sie und reißt die Kühlschranktür auf. »Von was lebst du eigentlich, Margit?«
Sie räumt Eier, Butter, Wurst, Käse, Joghurt in Augenhöhe ein, verstaut Karotten, Sellerie, Salat im Gemüsefach. Prüfend sieht sie sich in meiner Küche um.
»Bei dir sieht es aus wie in der Spendenkammer vom Roten Kreuz, Margit.«
Ihr Blick bleibt an dem Karton mit den Faschingsutensilien hängen. »Dein Kostüm muss aufgebügelt werden, Margit!«
»Ich weiß, Barbara.«
Barbara schubst mich ins Bad. »Duschen, Haare waschen, schminken! Ich bügle in der Zwischenzeit dein Kleid auf, Margit.« Ich halte mein Gesicht über das Waschbecken, lasse eiskaltes Wasser in meine Hände laufen, bespritze mein Gesicht und meinen Hals. Ich höre, wie Barbara das Bügelbrett hinter dem Dielenschrank hervornestelt, höre, wie sie mit dem Pizzalieferservice telefoniert. Ich bin gerade mit dem Schminken fertig, da ertönt auch schon die Haustürglocke.
»Ich komme runter«, brüllt meine Freundin in die Sprechanlage und verschwindet im Treppenhaus. Meine Füße hinterlassen Spuren auf dem Laminatboden.
»Trockne dich ordentlich ab, setz dich an den Tisch und iss erst mal was, bevor du dich anziehst und dein Kleid verkleckerst«, befiehlt meine Freundin Minuten später. Sie stellt die Pizza samt Kartonage vor mir auf den Tisch, drückt mir Messer und Gabel in die Hand und wünscht mir einen guten Appetit. Den habe ich, ich schlinge die Pizza hinunter wie ein Raubtier seine Beute.
Mein Korsagen-Kostüm hängt frisch gebügelt am Griff des Einbauschrankes. Hoffentlich passt es mir noch, denke ich, ich habe einige Kilos zugenommen, seit ich es das letzte Mal anhatte. Barbara sieht provokant auf ihre Armbanduhr.
»Die Mädels warten, Margit.«
Ich wische mit dem Handrücken über meinen Mund, wische die Hand an meinem Bademantel ab, rote Streifen zieren das weiße Frottee.
»Altes Ferkel«, schimpft Barbara. »Wasch deine Hände und dann rein mit dir in das Kleid!
Sie nimmt das Kostüm vom Bügel und hält es mir zum Reinschlüpfen hin. Ich steige mit dem rechten Fuß zuerst in mein Traumkleid, dann mit dem linken, Barbara zieht es hoch bis zum Po, dann bleibe ich hoffnungslos darin stecken. Ich kneife die Pobacken zusammen, ziehe den Bauch ein und halte die Luft an. Barbara zerrt und zerrt, bis die Seide ratscht. Meine Busenfreundin schlägt entsetzt ihre Hände vor den Mund, dann zieht sie den zarten Stoff wieder nach unten.
»Mach schon, Margit, nichts wie raus aus dem Kleid, wir probieren es von oben.«
Sie nimmt das zarte Gebilde vom Boden und streift es über meinen Kopf. Meine Haare laden sich in Sekundenschnelle elektrisch auf. Barbara schlägt sich auf die Schenkel und lacht schallend.
»Du siehst aus wie ein Hamster unter Stromschlag, Margit.«
Sie fummelt an dem Reißverschluss. »Bauch einziehen und Luft anhalten, Margit!«
Ich ziehe meinen Bauchnabel Richtung Wirbelsäule, so wie es mich der Fitnesstrainer im Volkshochschulkurs gelehrt hatte, halte den Atem an, bis mir schlecht wird. Der Reißverschluss schafft es bis kurz vor den Halswirbel, dann hält Barbara den Reißverschlussschieber in der Hand.
»Sind nur ein paar Pfündchen, die zuviel sind Margit«, tröstet sie mich. Sie holt kurzerhand meinen Schal von dem Garderobenhaken, drapiert ihn so geschickt um meine Schultern, so dass auch der Riss im Stoff verdeckt ist. Sie befestigt ihre Kunst mit Sicherheitsnadeln und nickt zufrieden mit dem Kopf. »Du siehst aus wie ein Burgfräulein, Margit.«
»Ich fühle mich eher wie eine abgepackte Leberwurst«, piepse ich weinerlich. »Ich habe wirklich nicht die geringste Lust auf Fasching feiern, Barbara!«
»Bis du Musik hörst und dein Tanzbein schwingen kannst, Margit.«
Barbara grinst. »Du könntest dir deine Tanzsportmedaillen um den Hals hängen, Liebes.«
Wir haben das Glück, den letzten freien Parkplatz zu ergattern. Es schneit in Riesenflocken und Barbara sprintet der Festhalle zu.
»Meine Brille«, stöhnt sie, bleibt an der obersten Treppenstufe stehen und kramt in ihrer Handtasche nach dem Brillenputztuch. Ich bleibe fasziniert unter der Laterne stehen, bewundere die Schönheit der sechseckigen Kristallgitter und ziehe genießerisch die Luft durch meine Nase. Jede einzelne der Riesenschneeflocken ist ein Unikat, stelle ich fest. Raucher gesellen sich zu Barbara. Ich halte mir provokant die Nase zu und haste an ihnen vorbei.
»Immer noch besser als Krankenhausluft«, lästert Barbara, drückt ihre Zigarette aus, schnappt nach meiner Hand und zieht mich neben sich her. Die Stimme der Provinzbandsängerin dröhnt durch den übervollen Saal. »Gell du hosch mich gelle gern …«
»Hier bekommen wir doch nie einen Sitzplatz«, meckere ich, als Barbara mich durch die endlosen Stuhlreihen zieht.
»Du bist immer so entsetzlich pessimistisch, Margit.«
Meine Freundin findet tatsächlich zwei leere Stühle, ziemlich weit vorne sogar, man kann die Band gut sehen.
»Hier, Margit«, triumphiert sie, setzt sich und fängt augenblicklich einen Flirt mit ihrem Stuhlnachbarn an. Ich sehe mich in der Halle um. »Gell du läschd mich net im Stich«, hallt die Piepsmausstimme der Sängerin an mein Ohr.
»Wie passend der Text doch ist«, lästert Barbara und wendet sich wieder ihrem Gesprächspartner