»Arden? Bist du auch schon hier?«, fragte die vertraute Stimme Solaras‘ besorgt. Der Angesprochene spähte ein letztes Mal prüfend durch die Farnwedel und stellte erleichtert fest, dass es sich bei dem Ankömmling tatsächlich um seinen Freund handelte. Genau wie sonst auch strebte dieser mit federnden Schritten dem flachen Felsblock zu, auf dem sie für gewöhnlich saßen.
Weswegen hatte er überhaupt etwas anderes erwartet? Jetzt war ihm sein übervorsichtiges, geradezu paranoides Verhalten schon fast peinlich.
»Ja, ich bin schon seit einer ganzen Weile hier!«, antwortete er mit einiger Verzögerung und bemühte sich nach Kräften, seine Erregung zu verbergen. Als wäre er nur spazieren gegangen, schlenderte er aus seinem Versteck hervor und ging Solaras entgegen.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Solaras beim Anblick Ardens. Der Geschichtsschreiber wirkte verkrampft, sogar der Klang seiner Stimme hatte sich verändert. Ob dies womöglich an der veränderten Atmung lag, die heute eher stoßweise und gepresst seine Lungen verließ?
Die Freunde nahmen an ihrer angestammten Stelle Platz.
»Mir geht es gut, Solaras!«, beschwichtigte Arden. »Ich bin lediglich ein wenig nervöser als sonst. Wir stehen schließlich im Begriff, uns mit vollem Vorsatz eines Vergehens wider die Gemeinschaft schuldig zu machen. Dir ist doch bewusst, was uns als Strafe drohen würde?«
Solaras‘ Miene wurde augenblicklich ernst. »Klar! Man hat es uns während der Schulungen regelmäßig eingetrichtert. Mal sehen, ob ich alles richtig im Gedächtnis behalten habe! Wir müssen uns vor Beginn der Gespräche vollständig darüber im Klaren sein, worauf wir uns einlassen!«, nickte er und zog die hohe Stirn in Falten.
»Also – das erste, etwas leichter wiegende Vergehen wäre schon die sinnlose Zeitvergeudung. Auf einer Strecke herumzufahren, die ins abgelegene Nirgendwo führt, würde wohl als solche betrachtet werden. Freilich, man kann sich legal mit einem Freund treffen und seine Freizeit mit ihm verbringen – nur eben nicht hier, abseits der Zivilisation. Richtig?«
»Richtig!«, bestätigte Arden kurz und bündig. Gängelnde Vorschriften wie diese hatte er in seinem tiefsten Inneren niemals akzeptieren können, obwohl sie durchaus einen tieferen Sinn beherbergen mochten. Man wollte auf diese Weise wahrscheinlich sichergehen, dass sich aus der Abgeschiedenheit geheimer Zusammenkünfte keine Revolten wider die Obrigkeit entwickeln konnten. Alles fand geregelt in der Gemeinschaft statt, jeder überwachte jeden. Konnte man da noch ernsthaft von der vielgerühmten Freiheit des Einzelnen sprechen?
»Nummer 2: Wir haben hier zufällig einen unberührten Ort aufgefunden, der unter Umständen für eine Nutzung durch die Gemeinschaft infrage käme. Wir hätten das auf der Stelle melden müssen! Dieser ebenfalls vorsätzlich begangene Fehler würde bei Aufdeckung sicher dazu führen, dass wir beide wegen Vertrauensverlusts als untragbar von unseren Sektionen ausgeschlossen werden würden.
Was für mich einer Katastrophe gleichkäme, um ehrlich zu sein. Stelle dir nur vor, man ließe uns nicht mehr forschen und recherchieren … nein, soweit darf es keinesfalls kommen!«, fuhr Solaras kopfschüttelnd fort.
»Da stimme ich dir vollinhaltlich zu!«, knurrte Arden. »Es wäre auch für mich kein erträglicher Lebensinhalt, mich künftig mit profanen Montagearbeiten oder Landwirtschaft beschäftigen zu müssen!«
»Und trotzdem ließe man uns wenigstens noch weiterleben, falls wir Delikt Nummer 3 heute nicht begehen würden: den sektionsübergreifenden Verrat!«, sagte Solaras mit Nachdruck in der Stimme.
Kaum war das Undenkbare ausgesprochen, hing dieser Satz wie eine düstere Warnung in der Luft, schien die Umgebung mit Spannung aufzuladen. Beide Männer ließen die entstandene Stimmung auf sich wirken, sinnierten in geistiger Übereinstimmung über die Gewichtung des Für und Wider. Noch konnten sie ihr Vorhaben jederzeit abbrechen, sich auf den Pfad der Rechtstreue zurückbewegen.
Momente wie diese hatten den Freunden schon früher vor Augen geführt, wie perfekt sie im Fühlen und Denken harmonierten. Arden wurde überdies bewusst, dass er Solaras genau genommen in einem Anfall von Spontaneität das Brechen der Regeln beim letzten Treffen bereits in Aussicht gestellt hatte. Wie würde der auf einen Rückzieher reagieren, falls er sich hierzu entschloss?
Solaras‘ Überlegungen kreisten mehr um die Frage nach dem tieferem Sinn der starren Regelungen. Auch wenn von den Dozenten seiner Sektion in nahezu sämtlichen Unterrichtseinheiten strikt betont worden war, man solle geltendes Recht niemals infrage stellen, weil die Vorschriften von klugen Köpfen erdacht und überprüft worden seien, die im Gegensatz zu einzelnen Individuen über einen exponierten Gesamtüberblick verfügten – sein wacher Geist ließ sich niemals ganz abschalten, so sehr er das auch versuchte.
Es mochte durchaus den Tatsachen entsprechen, dass die gängige Gewaltenteilung im Alltag Sinn machte. Solange jeder sich ausschließlich um denjenigen Bereich kümmerte, für welchen er ausgebildet war, zeitigte dies wegen der Spezialisierung die bestmöglichen Ergebnisse. Die Vordersten der jeweiligen Sektionen koordinierten und kumulierten diese Bemühungen zu einem Ganzen, behielten den Überblick und die Weisungsgewalt über ihren abgegrenzten Bereich.
Nur dann, wenn Entscheidungen sektionsübergreifend getroffen werden mussten, durften ausgewählte Mitglieder zusammen mit ihren Vordersten über diese starren Grenzen hinweg Informationen austauschen und sodann geeignete Vorschläge für die Regentenfamilie ausarbeiten. Selbstverständlich unter strengster Geheimhaltung und unter Ausschluss der Öffentlichkeit – die erfuhr nur, was sie unbedingt wissen musste. Aus diesem Grund existierte auf Tiberia auch keine freie Medienlandschaft, die unkontrolliert Informationen an das einfache Volk hätte ausposaunen können.
Wie aber verhielt sich die Sache, falls Entscheidungen von epischem Ausmaß anstanden? Durften einige wenige Menschen dann tatsächlich über die Köpfe der restlichen Bevölkerung hinweg entscheiden? Was, wenn sie hierbei einem folgenschweren Irrtum unterlagen?
Es hatte in der Vergangenheit bereits einige solcher fatalen Fehlentscheidungen gegeben, zu denen er Arden unbedingt näher befragen musste. Dieser kannte als führender Geschichtsschreiber sämtliche Details, die man seiner rein wissenschaftlich orientierten Sektion leider weitgehend vorenthalten hatte.
Die Wissenschaftler hatten zwar mehrmals im Verlauf von Tiberias Geschichte ermöglichen ›dürfen‹, dass man Terra mithilfe von modernster Raumfahrttechnik zeitnah erreichen konnte; der Rest unterlag jedoch strikter Geheimhaltung. Über den Ausgang der jeweiligen Missionen waren der Allgemeinheit von offizieller Seite nur ausgewählte Bruchstücke mitgeteilt worden. Die Propaganda-Maschinerie funktionierte insoweit vorzüglich.
Klar – hätten sich die Mitglieder der betroffenen Sektionen untereinander mit detaillierten Informationen aus ihrem Gebiet versorgt, wäre es wohl schwerlich gelungen, sie für weitere Aktionen ähnlicher Art zu rekrutieren … zumal man damit rechnen hätte müssen, dass sektionsfremde Zuhörer die Ereignisse mangels einschlägiger Fachkenntnisse falsch oder zumindest mangelhaft interpretierten.
Auf diese Weise entstanden die Keimzellen für Gerüchte und Halbwahrheiten, deren Auswirkungen hernach kaum mehr kontrollierbar waren. Und was immer man nicht zur Gänze kontrollieren konnte, ging eben erst recht nie wieder einzubremsen; unaufhaltsam verbreiteten sich unzutreffende Informationen weiter, genau wie konzentrische Ringe auf einem Teich, nachdem man einen Stein hineingeworfen hat.
Solche Entgleisungen konnten in letzter Konsequenz sogar die Denkweise eines ganzen Volkes verändern, das System zum Einsturz bringen und schließlich als unumstößliche Tatsachen in die Geschichtsschreibung einfließen. Wie sollten nachfolgende Generationen sicher unterscheiden können, was auf Tiberia tatsächlich geschehen war und welche Teile der Chronik mehr oder weniger auf solchen Fehlinterpretationen basierten? Ein Ding der Unmöglichkeit!
Solaras dämmerte, dass auch er mit neuen Informationen sehr sorgfältig umgehen musste, sofern Arden zu einer Kooperation überhaupt noch bereit war. Momentan sah er drein, als trage er diesbezüglich gegen sich selbst einen erbitterten Kampf aus.
»Also gut! Ich kann dich einfach nicht ins Ungewisse reisen