Frau Müller rutschte unruhig auf ihrem Stühlchen herum, wahrscheinlich wäre sie am liebsten wieder in das Büro gestürmt und hätte das Wort an sich gerissen. Elfi beobachtete sie unauffällig und war zu jeder Schlichtung bereit, als plötzlich das Telefon klingelte. Sie meldete sich mit dem ausgeleierten Sprüchlein, das ihr gedankenlos aus dem Mund flutschte:
»Anwaltspraxis Graber. Sie sprechen mit Elfriede Schamberger. Was kann ich für Sie tun?«
Eine geschmeidige Stimme meldete sich mit überdeutlicher Aussprache:
»H-ü-b-n-e-r. Kann ich Herrn Kollegen Graber sprechen?«
Sie war bei unbekannten Anrufern von größter Aufmerksamkeit und das Wort ›Kollege‹ hatte sie nicht überhört. Sie brauchte nur den Bruchteil einer Sekunde in ihrem Gedächtnis zu kramen, um dann nachzufragen:
»Darf ich fragen, sind Sie Herr von Hübner?«
»Ganz recht.«
Es war nicht so, dass ihm der zusätzliche Namensbestandteil unwichtig gewesen wäre, er legte sogar großen Wert darauf, dennoch meldete er sich am Telefon stets nur mit ›Hübner‹, nicht aus falscher Bescheidenheit, sondern sogar gänzlich unbescheiden. Denn im Grunde erwartete er, dass man ihn kannte und ihn sogleich ›vollständig‹ anredete. Kam es einmal vor, aber das war selten genug, dass er in einer ihm fremden Umgebung gezwungen war, sich selbst vorzustellen, pflegte er überdeutlich zu sagen: »Hübner, Otto von Hübner.« Es sollten keine Missverständnisse aufkommen.
»Einen Moment bitte, ich verbinde.«
Doch zunächst drückte sie auf die Unterbrechertaste und meldete sich bei Graber:
»Da ist ein Herr von Hübner in der Leitung.«
»Kenn ich nicht.«
»Vorsicht! Erzähle ich dir später. Wirtschaftsanwalt, ein hohes Tier.« Sie hatte sehr verhalten ins Telefon gesprochen, merkte aber, dass Frau Müller aufmerksam herübergeschaut hatte.
Graber war nicht ganz schlau geworden, was dieser Kollege wirklich von ihm wollte, es schien um einen Verkehrsunfall zu gehen und darum, dass er um die Mittagszeit zufällig in der Stadt sei und in der Kanzlei vorbeischauen könne. Natürlich wollte er keinen Termin vereinbaren (so sind solche Herren, aber das Wartezimmer mögen sie auch nicht, sondern rauschen am liebsten gleich ins Büro durch, ›nur auf ein Wort‹). Andererseits konnte es ein neues Mandat bedeuten, immerhin einen ordentlichen Versicherungsfall, und da soll man sich nicht anstellen. Natürlich hatte er Zeit (und würde notfalls sogar auf ihn warten).
Das musste er aber keineswegs. Gerade nachdem Graber Herrn Öcalan mit aufmunternden Worten verabschiedet hatte, kurz nach halb eins, kam Herr von Hübner ins Büro. Ganz gegen ihre Gewohnheit fragte Elfi weder nach Namen noch nach Begehr, sondern nahm ihm nach der Begrüßung sogleich den Staubmantel ab und öffnete die Tür zum Büro. Verwechslungen waren nicht möglich, ein solcher Besucher hatte sich noch nie in ihre Kanzlei verirrt. Die ganze imposante Erscheinung, groß, würdevoll, dabei aber höchst umgänglich und mit heiterem Strahlen im Gesicht, spiegelte einfach eine andere Liga als das sonstige Publikum. Sie hatte Graber schon zuvor instruiert mit allem, was ihr aus ihrer Frankfurter Galerienzeit erinnerlich war, und das war eigentlich nur vom Hörensagen. Natürlich vorwiegend aus der Museums- und Kunstszene. Und dass er mit wirklich allen führenden Wirtschaftsleuten persönlich bekannt sei. Rechtsanwalt, ja, aber ohne eigene Kanzlei. Was er tatsächlich arbeite und für wen, das wisse niemand. Da müsse schon eine Menge Kohle sein, jedenfalls gelte er als ein großer Kunstmäzen.
Elfi ging vor, Hübner folgte nur zögerlich, weil er sich ungeniert umsehen und einen optischen Eindruck von der Kanzlei gewinnen wollte, dann stellte sie Graber den Gast vor (statt umgekehrt). Sie dachte, dass es so richtig und geboten sei, schließlich kam er als Mandant, und selbst ein sehr bescheidenes Anwaltsbüro müsse auch eine gewisse Selbstsicherheit ausstrahlen. Die unverkennbare Verlegenheit Grabers, die sie sogleich bemerkte, überspielte sie, indem sie dem Besucher einen Kaffee anbot.
»Das ist reizend von Ihnen, vielen Dank, aber so kurz vor dem Mittagessen …«
Die Erzählung Herrn von Hübners von der eindeutig provozierten Beschädigung seines Autos am Vortag war sehr anschaulich durch blumige Ausschmückungen. Insbesondere das vulgäre Benehmen des bulligen Fahrers – »Silberkette und Gefängnishaarschnitt« – schilderte er mit köstlichem Humor. Er zeigte sich dabei keineswegs beunruhigt, nahm es eher als einen Ganovenstreich von Leuten, mit denen er sich eigentlich nicht abzugeben pflege oder gemeinmachen wolle, aber ganz durchgehen lassen könne man so etwas natürlich auch nicht. Graber versuchte, sich die Szene vorzustellen, war sich aber nicht sicher, ob er an seiner Stelle nicht in panische Angst geraten wäre. Aber dann interessierte ihn vor allem, wer dahinterstecken könnte. Wenn es keine persönlichen Feinde gab, wie Herr von Hübner versicherte, müsse man vielleicht an einen terroristischen Hintergrund denken. Indem er es aussprach, erschrak Graber sogleich, dass er selbst ein so abgedroschenes Vorurteil, wie es sich nur die Boulevardpresse ausdenken konnte, ins Gespräch brachte. Er bekam auch sogleich eine Abfuhr:
»Unsinn. Entschuldigen Sie, das halte ich für gänzlich abwegig. Das hieße nur, ein Schreckgespenst an die Wand zu malen.«
Graber lachte etwas gekünstelt auf, um seine Bemerkung selbst damit als Scherz zu entwerten.
»Sie haben völlig recht, diese Art Terrorismus gibt es bei uns zum Glück nicht. Wir leben doch in einer ziemlich friedlichen Ecke und nicht in Moskau.«
Noch so ein pauschales Vorurteil, das ihm da rausgerutscht war. Graber nahm sich vor, sich besser zu kontrollieren.
»Sehen Sie, ich will mich damit nicht weiter ins Gespräch bringen. Und deshalb will ich auch nicht die Polizei einschalten. Wenn die das nämlich richtig ernst nähme, und das müsste sie doch wohl, dann ginge das womöglich los mit verstärkter Bewachung und Personenschutz und ähnlichen Vorstellungen. Dann würde ständig eine Polizeistreife da oben, wo ich wohne, herumspazieren und das ganze Umfeld aufgeschreckt werden. Unter Umständen gäbe es sogar einen Artikel in der Zeitung. Nein, danke. Das möchte ich niemandem von meinen Nachbarn zumuten, mir selbst auch nicht.«
»Sie wohnen am Lorettoberg?«
»Ja, kennen Sie die Gegend?«
»Nein, nicht so genau.«
»Es ist sehr ruhig da oben. Ziemlich alte Villen in großen Grundstücken. Und es wohnen auch hauptsächlich ältere Herrschaften dort, Rentner und Pensionäre. Ein sehr seriöser Umkreis. Im Allgemeinen wenigstens. Mein neuer Nachbar wird sich da hoffentlich gut einfügen.«
»Darf ich fragen, wer das ist?«
»Ach, wie heißt er noch? Fällt mir im Moment nicht ein. Dieser bekannte Hamburger Modeunternehmer. Von dem haben Sie sicher schon gehört. Er hat gerade sein Unternehmen verkauft und will sich jetzt hierher zurückziehen. In der Presse